Stefy Püttmann aus Essen

„Die Hodenprothese wäre der perfekte Schlüsselanhänger gewesen.“

Hallo Stefy, bitte stell dich kurz vor!

Ich heiße Stefy P. aus E. an der Ruhr. Tagedieb, Legastheniker, mit ADHS. Thanks a lot, Gott!

Was machst du beruflich?

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie gearbeitet. Wenn mir was Spaß macht, mache ich das einfach. Das ist dann keine Arbeit für mich und ich will dann auch nicht viel Geld dafür haben.

Hast du denn eine Ausbildung?

Ursprünglich hab ich mal ‘ne Tischlerlehre gemacht. Auch abgeschlossen, aber dann nie in dem Job gearbeitet. Dann habe ich versucht, Häuser bauen zu lernen – aber das war gar nichts für mich. Während des Architekturstudiums mussten wir versuchen, den Geschmack vom Professor zu treffen. Später im Beruf wird das nicht besser, da geht‘s dann um den Geschmack des Bauherren. Wenn du mal ein Geländer selbst stylen darfst, ist das schon ‘ne große Nummer.

Was kam als nächstes?

Ich hab das Fach gewechselt und Objektdesign studiert. Ich bin eben der Handwerkertyp und wollte da noch ein bisschen Geschmack reinbringen. Anschließend war ich für anderthalb Jahre in Paris und habe als Deko-Assistent für den berühmten Fotografen Gerhard Vormwald gearbeitet. Der hat irre Fotos gemacht, zum Beispiel für West Jeans und Camel Boots. Damals wurde gerade die Zigarettenwerbung verboten und die Marken versuchten, ihre Namen noch irgendwie anders auszuschlachten. Da haben wir tagelang in den Studios herumgehangen und sind nachts mit fetten Autos durch Paris gefahren, das war ‘ne verrückte Zeit.

Aber geboren bist du in Essen.

Ja, in Essen-Fischlaken. Mit vier älteren Geschwistern. Zur Schule gegangen bin ich in Werden, meine Eltern hatten da ein Pelzgeschäft. Ich habe zehn mal die Schule gewechselt und bin letztendlich vom Jungen-Internat geflogen – mit Hauptschulabschluss. Danach habe ich die Tischler-Lehre gemacht und nach der Ausbildung die Mittlere Reife und auch den Fachhochschulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt. Mit dem Pommes-Majo-Abitur – das sagt man doch so, oder? – konnte ich dann Architektur studieren.

Hast du, abgesehen von der Zeit in Paris, immer in Essen gelebt?

Zwischendurch war ich auch mal in Berlin für anderthalb Jahre, bin aber reumütig zurückgekehrt. In Berlin, damals noch West-Berlin, haben die so sehr auf Wessi gemacht, da fehlte mir irgendwie der Bezug. Hier in Essen hatte ich mein soziales Netz und zuerst dachte ich, ich muss mal weg aus dieser Provinz – aber als ich das dann gemacht hatte, wollte ich eben ziemlich schnell wieder zurück.

Aber die Berliner Partyszene hast du schon mitgenommen?

Klar, so kurz vor der Wende war ja die Hochzeit der Techno-Szene, da war da ganz schön was los. Ich hatte eine Freundin in Berlin, die kannte sich gut aus, und es gab ständig Spontanpartys in irgendwelchen Hinterhöfen. Und einmal eine große Kitkat-Party am Görlitzer Park in Kreuzberg, mit Lack und Leder und mit Fummeln auf der Straße und so. Da hab ich ganz schön geguckt, so als Landei!

Haben Drogen für dich eine Rolle gespielt?

Die Leichtigkeit des Seins! Na klar, die will ich nicht missen. Aber die Zeit liegt hinter mir. Ich arbeite hier in Essen manchmal in der Suchthilfe. Und wenn da jemand zu mir sagt: „Aber Stefy, früher hast du doch auch…“, dann antworte ich immer: „Versuch, es ohne das Zeug zu schaffen!“ Ich persönlich hab‘s immer in einem Rahmen gehalten, wo alles noch funktionierte. Aber wenn du einmal mit dem Feuer spielst, dann geht‘s auch leicht schief. Es wird einfach schnell zu viel, selbst wenn man die Drogen nur zum Feiern nimmt. Das ist dann irgendwann wie ein Kaffee, der nicht mehr schmeckt und du wirst auch nicht mehr wacher. Ich bin da zum Glück noch mit ‘nem blauen Auge davongekommen.

Was hast du denn genommen?

Bei mir war‘s immer Ecstasy. Das macht irgendwie alles leichter, du kannst mit jedem reden und es macht einfach Spaß. Der Techno-Sound auf Partys putscht das Ganze natürlich zusätzlich. Hallozinogene, so LSD und so, fand ich dagegen nie gut. Vor vierzig Jahren gab es eine Zeit, wo ich alles ausprobieren musste, da hab ich auch mal Heroin versucht. Da stand ich dann aber schnell am Abgrund und wusste: Da willst du nie wieder hin. Also habe ich einen kalten Entzug gemacht. Die schrecklichste Droge war für mich aber der Alkohol. Da habe ich vor zehn Jahren dann auch endlich einen Entzug gemacht und seitdem keinen Tropfen mehr angerührt.

Du hast außerdem eine lange Krankheitsgeschichte …

Beim Drogen nehmen habe ich mir mal eine Hepatitis C eingefangen, die konnte aber gut behandelt werden und heute bin ich sie wieder los. Außerdem hatte ich insgesamt dreimal Krebs. Auch das ist inzwischen wieder weg. Schon toll, was heute alles möglich ist. Das erste Mal Krebs hatte ich mit 26 Jahren. Da spürte ich plötzlich so eine Verdickung an meinem Hoden und zack, lag ich im Huyssenstift mit akutem Verdacht auf Hodenkrebs.

Das war bestimmt ein ziemlicher Schock in so jungen Jahren?

Eine großartige Szene war, wie die Krankenschwester hereinkam und mir Hodenprothesen zeigte. Ich ärgere mich schwarz, dass ich damals keine mit nach Hause genommen habe. Das wäre der perfekte Schlüsselanhänger gewesen! Hätte sich auch gut gemacht an meinem Schlüsselbund, da trug ich nämlich später sogar die alte Spirale von meiner damaligen Freundin. Hätte perfekt gepasst! Die brauchte sie nicht mehr, bei mir kam nach der OP ja nur noch heiße Luft raus.

Nach einem dreiviertel Jahr war ich dann bei der Nachsorge. Da hab ich mir erst keine Gedanken gemacht, da sie mir vorher gesagt haben, dass ich eine 98-prozentige Heilungschance hätte. Wie gesagt – ich habe ja die Leichtigkeit des Seins. Damals fuhr ich einen alten Citroen. Es war ein toller Sommertag, gleißendes Sonnenlicht. Ich hatte gerade eine Freundin mit langen Locken bis zum Hintern. Da sagte der Arzt mir „Herr Püttmann. Ich glaube, da ist wieder was.“ Ich zeigte nur auf meinen alten Citroen mit meiner hübschen Freundin auf dem Beifahrersitz und sagte „Ich komm nach dem Sommer wieder. Auf Wiedersehen.“ Innerhalb von zwei Monaten hatte ich dann einen fußballgroßen Tumor im Bauch. Aber auch das habe ich überstanden.

Heute habe ich überall Narben, von den ganzen Operationen. Ich habe mal nachgezählt: Ich habe in meinem Leben schon 53-mal unter dem Messer gelegen! Mein erster Krankenhausaufenthalt war, als mich mal ein Käfer überfahren hat. Da war ich sechs Jahre alt. Ich bin echt unkaputtbar, ich hatte damals nur eine Gehirnerschütterung – mehr nicht. Ich hab‘ gute Gene – von meiner Mutter. Die ist echt so ein getrocknetes Fensterleder, 93 Jahre alt und topfit, also da mach ich mir keine Sorgen.

… obwohl du gerade einen Schlaganfall hinter dir hast.

Stimmt. Ich hatte eine Hirnblutung und die Nachwirkungen sind noch sehr stark spürbar, du siehst ja, wie ich im Moment laufe. Das geht alles nicht mehr so schnell wie früher. Aber früher, das gibt‘s jetzt halt nicht mehr, es geht nur nach vorne, wenn auch nur millimeterweise. Jetzt gerade mache ich eine Physiotherapie und gehe zur Ergotherapie, es wird alles nach und nach besser.

Wann hattest du den Schlaganfall?

Vor gut vier Monaten. An dem Tag hab ich fünften Jahrestag mit meiner Freundin gefeiert. Wir waren in einem feinen Restaurant, alles war gut. Ich bin danach ganz normal ins Bett gegangen. Dann wachte ich plötzlich mitten in der Nacht auf und mein Kopf fühlte sich an, als hätte ich am Abend zu viel gesoffen. Und dann floss der Speichel auch schon aus meinem Mund. Zehn Minuten später war ich in der Akutklinik im Philippusstift in Borbeck. Dort habe ich dann drei Wochen verbracht. Die ersten drei Tage konnte ich nicht einmal sprechen. Das war krass! (lacht) Natürlich hab ich riesiges Glück, dass das jetzt wieder geht. Bei mir hat‘s auf der rechten Seite eingeschlagen. Das Sprachzentrum sitzt auf der linken. Im Krankenhaus habe ich andere Patienten gesehen, die es viel übler getroffen hatte. Danach war ich noch vier Monate lang in der Rhein-Ruhr Klinik in Kettwig zur Reha.

Wenn du wieder ganz fit bist – wie sieht in Essen dein Alltag aus?

Ich bin Spezialist in Freizeitgestaltung. Meine Mutter finanziert mich und ich finde es leicht, mit etwas weniger Geld zu leben. Das ist genau mein Ding. Ich fahre gerne mit schönen alten Autos durch Rüttenscheid, treibe mich herum, trinke Kaffee und verbringe meine Zeit mit lieben Menschen. Meinen Jaguar hab ich von einer netten alten Lady geschenkt bekommen, eine Bekannte meiner Mutter. Die hatte den im Keller stehen und meinte: „Woll‘n Sie den nicht haben?“ Meinen alten Citroen hab ich von Helge Schneider gekauft, das ist der Wagen aus 00Schneider. Und dann hab ich noch einen alten Porsche.

Du hast vorhin gesagt, du arbeitest immer dann, wenn du Spaß dabei hast. Zum Beispiel?

In den letzten drei oder vier Jahren habe ich zum Beispiel eine Kindertheatergruppe geleitet, an einer Grundschule in Altendorf. Mit einem Kollegen zusammen habe ich mit 20 Kindern unter anderem „Romeo und Julia“ aufgeführt. Es war ganz toll, die Kinder dort zu einer Aufgabe zu kriegen.

Hast du selbst Kinder?

Nein. Meine Freundin hat einen elfjährigen Sohn, das war erst mal fremd für mich. Aber es ist schon toll, die Sichtweisen von einem Kind mitzubekommen.

Hast du ein Vorbild?

Ich bewundere eigentlich jeden, der irgendeine Fähigkeit hat, mit denen er anderen hilft und dabei guter Dinge ist. Das finde ich schön.

Was magst du am Ruhrgebiet?

Ich mag das Großstädtische, aber auch, dass es hier ein bisschen provinziell ist und du Frau Müller-Meier einfach auf der Straße triffst. Am Ruhrgebiet finde ich insgesamt charmant und schön, dass hier das Herz auf der Zunge liegt. Außerdem: Essen hält Leib und Seele zusammen! Das gilt auch für die Stadt. Und jetzt fünf Euro ins Phrasenschwein!

Wenn du eine Comicfigur wärst, welche wärst du und warum?

Mir fällt keine bestimmte ein. Aber ich wäre irgendjemand Schnelles – eine Figur, die ständig durchs Bild rennt.

Das Interview führten wir im Dezember 2018.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.