Stefanie Hirche aus Essen

„Meine innere Leere habe ich durch das kontrollierte Essverhalten gestopft.“

Hallo Steffi, stell dich doch bitte kurz vor.

Ich bin Steffi, 31 Jahre alt und in einem kleinen Dorf in Niedersachsen groß geworden. Und zwar immerhin 184 cm! Ich habe in Hannover Umweltplanung studiert und danach als Fremdenführerin in der Umweltbildung gearbeitet. Vor fünf Jahren bin ich schließlich relativ spontan nach Essen ins Ruhrgebiet gezogen. Alleine und ohne Jemanden hier zu kennen. Grund war ein Job in einem Planungsbüro. So fing meine Liebe zu Essen, meiner Wahlheimat, an.

Der Job war aber nicht meins. Das Team und das Büro waren zwar super, aber die Arbeit gefiel mir einfach nicht. Das tägliche von morgens bis abends vorm Computer sitzen ist nichts für mich. Ich bin so ein „Draußen-Frischluft-Kind“. Ich bin auf einem Dorf in Niedersachsen aufgewachsen und in einer Landjugend mit traditionellen Trachtentänzen und viel Fanta-Korn auf Zeltfeten aufgewachsen. Die Trachten hängen sogar noch im Schrank.

Wie lange bist du dann in dem Job geblieben?

Nach der Probezeit haben wir das Arbeitsverhältnis beendet. Ich habe mich einfach nur unglücklich gefühlt – ich war einsam, der Job gab mir auch keinen Halt, ich wusste nicht was ich nun machen sollte und der graue Winter im Ruhrgebiet trug den Rest dazu bei. Meine Essstörung wurde wieder lauter. Sie und die Depressionen. Die nannte ich „den düsteren Nebel“. Ich bin aber trotzdem in Essen geblieben. Aufgeben war keine Option. Ich hatte ja schon einige tolle Bekanntschaften gemacht.

Was hast du dann gemacht?

Ich war dann ein Jahr lang arbeitslos und habe mich als Honorarkraft an verschiedenen Ganztagsschulen in Essen und mit diversen Jobs in der Umweltbildung durchgeschlagen. Die Essstörung blieb aber und war immer wieder ein trostspendender „kontrollierbarer“ Teil von mir.

Momentan bin ich für zwei Jahre über Teach First Deutschland an einer sogenannten Brennpunktschule für zwei Jahre angestellt. Das ist ein NGO. Sie agiert weltweit. Ich bin am Berufskolleg und möchte dort die Schülerinnen und Schüler unterstützen, ihre Stärken und Talente zu entdecken und sichere Übergänge in Ausbildungen oder andere Schulen zu schaffen. Die Arbeit im Team dort macht mir total Spaß.

Möchtest du etwas über deine Essstörung erzählen?

Ja. Ich habe einfach überlegt, dass ich darüber mal öffentlich erzählen möchte, weil es noch so vorurteilsbehaftet ist und zugleich nicht als ernsthaft lebensbedrohliche Krankheit angesehen wird. Es gibt viele Blogs und Instagram-Accounts, die sich damit beschäftigen. „Liebe dich selbst, dann findest du zu dir“, „Sei achtsam“ und so weiter … So viele tolle Tipps, um sich so zu mögen und zu akzeptieren, wie man ist. Dann noch diese Diätenratgeber „Low Carb“ und „verbrenne Kalorien, baue Muskeln auf, um abzunehmen“, „meide Zucker, dann kommt es nicht zu Heißhunger“ … mich macht das alles wütend.

Warum das?

Was da alles hinter steckt ist viel mehr! Das Dünn-sein-wollen, um glücklicher zu sein, die Sportsucht … das sind so viele Aspekte. Ich bin da volle Kanne reingerutscht und stecke auch noch mittendrin. Diese Krankheit bestimmte meinen Alltag und alles andere war – und ist es auch zum Teil noch – nach hinten gerückt. Meine innere Leere habe ich durch das kontrollierte Essverhalten gestopft.

Bist du deshalb in Behandlung?

Ich war bis vor kurzem in einer Klinik in psychiatrischer Behandlung und ich merke, dass ich jetzt erst an die eigentlichen Ursachen komme. Ich habe auch weiterhin ambulante Therapie.

Wie hat das mit der Essstörung bei dir damals angefangen?

Ich wollte nie einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen, das hat mich noch nie beeinflusst. Ich habe das Dünn-sein vielmehr mit einem Gefühlszustand aus früheren Tagen verbunden, an denen ich etwas weniger wog. „Wenn ich wieder dünner werde, werde ich wieder glücklich“ – ein Trugschluss! So fing die Kontrolle rund ums Essen und Nicht-Essen an.

Ich habe mich aber immer dafür geschämt – „Ich habe mir das selbst eingebrockt, da komme ich auch wieder von alleine raus.“ – Irrtum! Jetzt geht es darum, mit sich selbst zu sein und sich selbst aushalten zu können. Es geht darum, sich zu mögen und Gefühle zuzulassen und sich zu erlauben. Mit der Essstörung lenke ich mich von mir ab, das merke ich immer mehr. Die Essstörung ist mir immer ein Trostspender gegen die Einsamkeit gewesen. Das ist dann mein Halt. Aber die Einsamkeit habe ich mir ständig selbst gesucht. Denn eine Essstörung macht furchtbar einsam. Und sie ist eine Sucht, sie gibt mir eine gewohnte Routine, von der es schwer ist, loszukommen.

Wie gehen deine Mitmenschen mit deiner Essstörung um?

Ich überlege oft, welche Freunde wirklich Freunde sind. Ich habe schon erlebt, dass vermeintlich gute Freunde einen dann doch sitzen lassen, wenn es einem nicht gut geht. Es war bestimmt nie böse gemeint, aber die waren dann einfach mit der Situation überfordert. Verständlich. Es gab aber bestimmt auch Personen, denen ich zu anstrengend war. Und ich hasse übrigens Sonntage!

Warum?

Als Single sind Sonntage die Hölle! Fast alle meine Freunde haben Beziehungen, und das gönne ich denen ja auch, aber am Sonntag melden sich die wenigsten und wollen mal was unternehmen. Die sind alle versorgt und haben keine Zeit für mich. Das macht traurig. Aber genau an diesen Tagen geht es ja darum, die Zeit mit sich selbst zu erleben und zu verbringen – ohne die Essstörung!

Hattest du eine feste Partnerschaft?

Ja, zwei lange. Mit 14 habe ich mich in meine erste große Liebe verliebt. Wir waren acht Jahre zusammen und haben in Hannover auch zusammengewohnt. Die Trennung war der Auslöser – aber nicht der Grund – für meine Essstörung. Ihn trifft da keine Schuld, denn unsere Beziehung war einfach nur noch eine Freundschaft. Die Liebe war weg. Ich konnte ihn trotzdem schlecht loslassen. Und als er weg war und die Wohnung und alles auf einmal neu in mein Leben gekommen ist, kam die große Einsamkeit und die Leere.

Da habe ich dann gedacht, dass, wenn ich dünner werde, ich auch glücklicher werde. Ich musste an eine Zeit von ein paar Jahren denken, als ich eine glückliche Zeit hatte. Und da hatte ich so fünf bis sechs Kilo weniger auf der Waage. Das habe ich dann in meinem Kopf miteinander verknüpft. Was für ein Schwachsinn!

Wie kam es dann zur Bulimie?

Eines Nachmittags hat mir mal eine Freundin davon erzählt, dass sie kotzen würde, wenn sie sich schlecht fühlt, und davon abgenommen hat. Ich konnte mir aber nie den Finger in den Hals stecken. Ich habe es dann mal versucht, irgendwann hat es geklappt. Und so fing diese Scheiße und der Horror an …

Wenn ich höre, dass manche Mädchen wegen ihres schlechten Gewissens nach dem Essen sagen: „Ich wünschte, ich könnte kotzen!“ Da raste ich aus! Das ist ein Teufelskreis. Man kommt da kaum raus. Und ich bin da immer noch drin. Aktuell habe ich die Bulimie fast im Griff. Es gibt noch Abende, da fress ich und kotz ich. Das ist dann wieder der Trost. Ist gestern Nacht wieder passiert.

Niemand kann wirklich helfen. Man muss darauf hoffen und aktiv arbeiten, dass die eigene Motivation kommt, sich helfen zu lassen. Ich habe mir damals Hilfe gesucht, aber zuerst waren in meinem Kopf die Gedanken, dass ich an meiner Lage selbst Schuld habe. Mir ist in meinem Leben nichts passiert, was rechtfertigen würde, dass ich diese selbstzerstörerische Sucht entwickelt habe. Ich bin selbst daran schuld, also muss ich auch alleine da raus. Ich habe ja immer schon alles alleine geschafft. Das ist aber falsch.

Und, dass das alles mit einer Depression zusammenhängt, habe ich erst während der Therapie verstanden. Und das kann niemand nachvollziehen, der da nicht drinsteckt. Dieser schwarze Nebel, den man einfach nicht greifen kann.

Wie geht es nun eigentlich weiter mit deiner Therapie? Was planst du?

Ich habe weiterhin ambulante Therapie und Gruppentherapie. Es geht nun darum, meine Ressourcen und Stärken nicht mehr in die Essstörung reinzustecken, sondern mein Leben zu strukturieren. Dazu gehört auch der Job. Ich suche auf längere Sicht einen Job im Bereich Umweltbildung – eine Kombination aus sozialer Arbeit und Umweltschutz. Es wird sehr schwer, darin Fuß zu fassen – aber auch das schaffe ich irgendwie … Ich bin ein sehr aktiver Mensch.

Aktiv und depressiv – passt das zusammen?

Niemand sieht mir an, dass ich depressiv bin. Ich wirke einfach nicht so. Ich bin ein sehr aktiver Mensch. Ich kann auch nicht lange schlafen – ich habe unfassbare Angst, im Bett liegenzubleiben. Da werde ich ja erst recht vergessen. Ich wache auf und muss sofort raus. Und wenn niemand da ist, gehe ich eben in die Natur. Das ist mir total wichtig. Gerade jetzt im Frühling: Vogelgezwitscher, Knospen, der Geruch … einfach sehen, dass alles lebt und wächst. Das habe ich von meinem Vater. Der ist auch ständig in seinem Garten.

Warst du schon immer so aktiv?

Während des Studiums habe ich oft Adhoc-Entscheidungen getroffen. Da bin ich spontan in die USA gefahren, um dort zwei Monate lang zu arbeiten. Ganz alleine – mit meinem Schulenglisch! Dann war ich da und habe erstmal nur geheult. Es war die Hölle. Aber irgendwann hatte ich dann die geilste Zeit meines Lebens. Ich habe nur gesoffen, gekifft und gefressen. Ganz ehrlich, was macht man in Amerika? Ich hatte den coolsten Job. Ich war in den Wäldern, an Wasserfällen und Wanderwegen und habe Besucherumfragen gemacht. Ich hatte mein eigenes Auto und durfte die ganze Zeit draußen sein und arbeiten. Das war der Hammer. Ich musste zu den Touristenattraktionen fahren und da war ich manchmal über drei Stunden unterwegs. Und dann ist man wieder einsam. Und was macht man in der Einsamkeit und mit der Langeweile? Essen. Ich habe zugenommen. In Amerika nimmt aber glaub ich jeder zu. Ich habe einfach kopflos gelebt. Nachdem die einsamen Zeiten vorbei waren, war ich glücklich … notfalls half Essen als Trostspender.

Aber ganz schön mutig, einfach so alleine in die USA zu fahren …

Mag sein. Im Nachhinein ziehe ich daraus meine Stärke. Als ich wieder nach Hause kam, war ich verändert. Vorher war ich extrem schüchtern und habe den Mund nicht aufgekriegt. Jetzt lasse ich mir wenig über meinen Lebensstil sagen.

Warst du sonst noch im Ausland?

Ja. Ich bin danach nach Holland für ein Auslandssemester gefahren. Das war auch schön, aber auch da habe ich meine Einsamkeit mit essen, fressen, kotzen bedient. Da wurde die Bulimie sehr, sehr laut. Ein wahrer Gehirnfick! Sorry für die Wortwahl, aber so ist es nun mal!

Wie sah dein Tagesablauf da aus?

Meine Zeit da bestand aus wenig Schlaf, Uni, Sport, essen, kotzen, essen, feiern, feiern, feiern, zwischendurch noch mal essen und kotzen und dann wieder schlafen und von vorne. Die Uni habe ich super geschafft. Aber meinen Körper dagegen ganz schön runtergewirtschaftet. Aber es war für mich eine geile Zeit. Ich habe mich in Süchte reinmanövriert und der Leidensdruck war aushaltbar. Die Bulimie stopfte die Einsamkeit, hinzu kam die Sehnsucht nach meinem damaligen Freund – eine Fernbeziehung.

Und so ging es weiter. Ich habe mir das Risiko und die Einsamkeit immer wieder selbst gesucht. Bin dann einfach alleine nach Essen gezogen. Und Anfang letzten Jahres war ich zwei Wochen lang in Afrika, in Ghana. Eine Woche bin ich allein die Küste entlang gereist – das war eine spontane Aktion, die auch ins Auge hätte gehen können.

Bist du da alleine hingereist?

Nicht ganz. Ein Arbeitskollege von Teach First hat mich gefragt, ob ich mitkommen möchte. Ich habe erst kurz überlegt, aber dann zugesagt. Wann kommt man schon mal nach Westafrika? Der Reiz war größer als die Vorsicht in einem völlig fremden Land mit völlig fremder Kultur zu reisen.

Und wie war es dann?

In Afrika hatte ich einen völligen Kultur- und vor allem Klimaschock. Dass es heiß war, wusste ich, aber mein eh schon geschwächter Körper kam mit dieser Hitze kaum klar. Wir sind in sogenannten Trotros – kleine bestuhlte Lieferwagen – neun Stunden lang mit 20 Leuten eng beieinander durch die Hitze gefahren. Und ich habe ja wirklich lange Beine. Ich bin dreimal in Ohnmacht gefallen und mir ging es abartig schlecht. Ich wollte einfach nur nach Hause – raus aus der Hitze. In meiner Panik vor der nächsten Inlandsreise habe ich die Reisegruppe verlassen, habe mein Gepäck genommen und bin alleine weitergereist.

Das war aber doch sicher nicht ganz ungefährlich?

Ich wusste nicht, wie man von A nach B kommt und bin an der Küste entlanggefahren. Ich hatte unfassbar beschissene Erfahrungen mit Männern. Und was ich da gemacht habe, war vielleicht total beknackt und gefährlich. Das ist mir jetzt auch klar. Ich habe mich auf der Reise wieder sehr einsam gefühlt, aber es war auch eine wunderschöne Zeit voller Selbsterfahrungen. Ich habe in den Dörfern gelebt und irre tolle, aufgeschlossene und höfliche Menschen kennen gelernt.

Ist denn etwas passiert?

Ja … es war Ostermontag. Das ist für die Menschen in Ghana immer ein Tag, an dem viel getrunken wird. Aber so richtig! Ich komme ja vom Dorf und bin viel gewohnt, aber die haben sich so abgeschossen, das war schon krass. Und dann fingen die auch an, mich anzugrabschen und ich habe gesagt „Don´t touch me!“, aber das hat die gar nicht interessiert. Da waren Familien, Mütter mit Kindern, die haben das gesehen, aber niemand hat mir geholfen – weil ich weiß bin. Diese Erfahrung war sehr heftig. Ich konnte meine Hautfarbe nicht verstecken. Eine Erfahrung, die ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger hier machen, die deswegen Diskriminierung erfahren. Schrecklich.

Hat niemand etwas dagegen unternommen?

Zum Glück hat irgendwann eine Mutter das gesehen. Sie hat zwar nicht geholfen, aber hat einem Polizisten Bescheid gesagt. Der kam dann zu mir und hat mich total ruppig getadelt. Ich solle nicht hier sein und gehen. Dann musste ich mich sogar einschließen lassen. Als ob es meine Schuld wäre.

Was gefällt dir am Ruhrgebiet?

Ich liebe die Leute hier! Diese lockere Schnauze … man kann mit jedem quatschen. Da kommt in Rüttenscheid Stefy Püttmann an mir vorbeigefahren, kurbelt das Fenster runter, trompetet mit seiner lauten Oldiehupe und schreit: „Steffi, du geile Sau! Du heißer Feger!“ Total verrückt, aber einfach nur liebens- und lebenswert. Sowas passiert nur im Ruhrgebiet. Und die Natur! Essen ist so grün, es gibt so viele schöne Orte. Man kann stundenlang durch Wälder und an der Ruhr entlanglaufen. Das glaubt man gar nicht, wenn man es nicht gesehen hat.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?

Gibt es Xena als Comic? Dann wäre ich Xena. Die war megaheiß in ihrem Metall-Outfit und megastark. Eine Kämpferin.

Das Interview führten wir im April 2020.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.