Simone Hüsch aus Essen

„Sei immer du selbst, es sei denn, du kannst ein Einhorn sein. Dann sei ein Einhorn.“

Hallo Simone. Stell dich bitte kurz vor.

Ich bin Simone Hüsch, 41 Jahre alt und komme ursprünglich aus Warstein, aus dem Sauerland. Seit zehn Jahren lebe ich mit meinem Ehemann in Essen. Vor vier Jahren ist unser Krawallmädchen auf die Welt gekommen. Am 7.7.2017 habe ich meinen Shabby-Chic-Laden „Vintage Wings“ ins Leben gerufen und bin seitdem selbständig. Und glücklich!

In dem Möbelladen in Essen-Holsterhausen verkaufe ich umgestaltete, aus dem Schönheitsschlaf wachgestrichene antike und alte Möbel. Meine Möbelstücke verlassen meinen Laden nach ihrer Schönheitskur in einem überwiegend romantischen und nostalgischen Design.

Was hast du vorher gemacht?

In meinem früheren Leben war ich Bürokauffrau. Dies geschah nicht ganz aus freien Stücken, Als ich klein war, hat meine Mutter im psychiatrischen Bereich gearbeitet und mich ab und an mitgenommen. Ihre Arbeit und ihr toller Umgang mit den Klienten haben mich beeindruckt und mir sehr gefallen. Genau das wollte ich auch. Aber meine Eltern schubsten mich in Richtung Büroarbeit. Mit 27 Jahren habe ich meinen Bürojob gekündigt, mit meinem Studium der Sozialen Arbeit begonnen und mit einem Einser-Diplom abgeschlossen. Mir haben das Studium und die anschließenden Jahre im psychiatrischen Kontext großen Spaß gemacht. In der Zeit wurde ich oft gefragt, ob es nicht belastend sei, täglich mit so stark psychisch kranken Menschen zu arbeiten.

Und war es das für dich?

Ich kann nur sagen, dass die Arbeit an sich nie belastend für mich war. Allerdings fiel es mir teilweise schwer, den Umgang von Vorgesetzten mit Mitarbeitern zu akzeptieren. Man sollte ja meinen, dass das Miteinander bzw. die Mitarbeiterführung besonders im sozialen Bereich vorbildlich oder zumindest sozial zugeht. Aber das ist leider nicht der Fall. Vor einigen Jahren kam dann der Drang auf, mich – wie früher als Kind – wieder kreativ zu betätigen. Und dann ging alles los.

Wie fing das an?

Ich war schon immer dekoverrückt. Zur Freude meines Mannes habe ich ständig nicht nur Deko und Möbel, sondern auch ganze Zimmer hin- und hergetauscht. Vor vielen Jahren waren wir eher im Kolonialstil eingerichtet. Irgendwann wurde mir das zu dunkel und ich entdeckte „Shabby Chic“. Ich habe dann zu Hause einen Tisch gestrichen. Die Verwandlung, dieser Vorher-Nachher-Effekt, hat mich geflasht. Danach habe ich einen Schrank umgestaltet, dann noch einen. Ich habe alles angestrichen und umgestylt, was ich finden konnte: Deko, Möbel, Wände – einfach alles. Ich war regelrecht süchtig.

Irgendwann kam der Punkt, dass Freunde und Verwandte mich fragten, ob ich für sie auch ein Möbelstück verwandeln würde.

Parallel dazu wehte ein kalter Wind durch meinen Ehevertrag. Meinem Mann wurden das Streichen, Verändern und Umräumen einfach zu viel. Wenn er nach Hause kam, standen überall Werkzeug und neue Rohdiamanten herum, statt nach Abendessen roch es nach Farbe und Kleckse klebten auf dem Fußboden. Irgendwann war der Punkt erreicht, an welchem mein Mann sagte „Moni, ich kann das nicht mehr. Ich will abends nach Hause kommen und mich auch im Dunkeln auf das Sofa setzen können, weil ich weiß, dass es da steht, wo es immer steht!“

Das war der Punkt, an dem ich entschied, dass ich es mit der Selbstständigkeit einfach wagen muss, um mich voll und ganz verwirklichen zu können. Ich habe meinen Job gekündigt und den ganzen Prozess der Existenzgründung durchlaufen, bis mein Laden „Vintage Wings“ endlich die Flügel aufspannen konnte.

Und das macht mich sehr glücklich. Ich kann räumen, gestalten und mich endlich ausleben. Mein Mitarbeiter kommt manchmal morgens rein und sagt „Oh, Tschuldigung – falscher Laden“, weil schon wieder alles an einem anderen Platz steht. Mit meinem Mann habe ich für unser Zuhause die Vereinbarung getroffen, dass ich alle drei Monate einen Schrank tauschen darf. Das ist jetzt die Regel und daran halte ich mich. Nach Essen riecht es aber trotzdem nicht, wenn er nach Hause kommt – dazu habe ich zu viel zu tun. Ich bin überglücklich, diesen Schritt aus der Sicherheit ins Ungewisse gegangen zu sein. Ich fühle mich seitdem freier. Wenn ich möchte, gehe ich barfuß in meinen Laden. Das ist für mich Luxus.

Das heißt, du bist jemand, der immer alles neu machen will?

Ja! Veränderung ist mir irgendwie ganz wichtig. Ich brauche stetig neuen Input, was mein räumliches Umfeld angeht. An Freundschaften und Zwischenmenschlichem halte ich dagegen stark fest.

Wie kam es, dass ihr ins Ruhrgebiet gezogen seid?

Ich komme ursprünglich aus Warstein und bin nach meinem Studium in Paderborn nach Hamburg gezogen. Mein Mann kommt aus Essen und war eines Abends in Hamburgs „Rosis Bar“ unterwegs. Dort begegneten wir uns. Er war mit Freunden ein Wochenende in der Stadt, um sich ein Fußballspiel – Duisburg gegen St. Pauli – anzusehen. Wir haben direkt 24 Stunden miteinander verbracht und er hat mich dann, einige Monate später, nach Essen rekrutiert.

Keiner bleibt im Sauerland – obwohl es da so schön ist! Das war für euch keine Option?

In Warstein ist nicht mehr viel los. Als ich klein war, war es da noch richtig schön. Da gab es noch viele Geschäfte und Leben auf der Straße, mittlerweile ist dort viel Leerstand. Viele der jungen Menschen ziehen, primär aus beruflichen Gründen, in größere Städte. Ich fahre nur noch in die Heimat, um meine Familie und Freunde zu besuchen.

Du bist mit deinem Laden sogar in einer Fernseh-Doku mit Oli P. gelandet. Wie kam’s?

Das war so ein Butterfly-Effekt. Ich habe die Existenzgründer-Hilfe bei der Agentur für Arbeit beantragt. Mein Sachbearbeiter stand voll und ganz hinter meiner Idee und hat sofort gesagt „Ich möchte Sie unterstützen. Ich glaube daran.“ Dann war ich bei der „Garage“ in Essen, die einen bei dem Business-Plan und weiteren notwendigen Prozessen der Existenzgründung unterstützen. Die haben für alle Bedürfnisse einen Ansprechpartner. Wenn man beispielsweise plötzlich Angst vor dem Schritt in die Selbstständigkeit bekommt, sorgt die Garage sogar für psychologische Unterstützung. Die brauchte ich zum Glück nicht, aber ich bekam viel Unterstützung beim Business-Plan und auch juristische Hilfe für rechtliche Fragen.

Im nächsten Schritt wurde die „Garage“ von der WAZ angesprochen. Die Tageszeitung schrieb eine Reihe über „Die Wünsche der Essener für das neue Jahr“. Sie waren auf der Suche nach einem Existenzgründer, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er mit seinem Business Erfolg haben wird. Mein Businesscoach schlug mich vor, und zack – wurde in der WAZ ein Artikel über mich und „Vintage Wings“ veröffentlicht. Und diesen Artikel wiederum hat ein Mädel von der Redaktion „Encanto“, der Produktionsfirma von Bettina Böttinger, gelesen. Genau zu dieser Zeit haben sie Leute zum Thema Upcycling und Re-Design gesucht. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, gemeinsam mit Oli P vor der Kamera zu stehen. Und dann waren sie recht kurzfristig zum Kennenlernen und einem kurzen Dreh in meinem Laden und haben sich direkt für mich entschieden. Es war also alles Zufall – oder Fügung.

Wie ist es bei so einem Dreh?

Ich war letzte Woche erst wieder bei dem Dreh in Bonn. Das ist schon eine andere Welt. Total spannend, aber auch sehr anstrengend. Es gibt rund um die Uhr Süßigkeiten und Schokolade. Hauptberuflich könnte ich das alleine aus dem Grund nicht machen!

Wann wird die Doku ausgestrahlt?

Im März 2019 wird das Format im Ersten montags bis freitags im Nachmittagsprogramm ausgestrahlt. Erst einmal sind 30 Folgen geplant. Ich komme darin mit verschiedenen Möbelstücken in vier bis fünf Folgen vor. Oli P. moderiert das Ganze. Es ist ein schönes Format, gegen die Wegwerfgesellschaft und für mehr Wertschätzung alter Dinge.

Hast du ein Lieblingsmöbelstück bei dir im Laden, was du nicht verkaufen willst?

Es gab schon einige Möbel, bei denen ich dachte: „Du bleibst auf jeden Fall für immer bei mir“. Das Ding ist aber: Wenn ein ganz lieber Mensch in meinen Laden kommt, bei dem ich das Gefühl habe, das Möbelstück ist dort wirklich gut aufgehoben, dann ist es ok – dann kann ich das Stück zwar schweren Herzens, aber mit gutem Gefühl gehen lassen.

Nimmst du auch Auftragsarbeiten an?

Ja, aber nicht jede. Ich bin nicht wirklich eine Geschäftsfrau. Mich muss das Möbelstück und auch das gewünschte Design ansprechen. Am Anfang habe ich noch Aufträge angenommen, die mich nicht wirklich überzeugt haben. Schnell habe ich dann festgestellt, dass ich dabei einen inneren Widerstand entwickle. Ich möchte keinen Schrank gelb streichen – mit roten Sternchen drauf. Bei diesen Aufträgen habe ich dann plötzlich Übersprunghandlungen entwickelt und Fenster geputzt oder Blätter gefegt. Ich möchte – beziehungsweise muss – meine Arbeit mit Leidenschaft ausführen können. Aus diesem Grund sage ich zu manchen Aufträgen Nein.

Hast du mal Probleme mit Kunden gehabt, denen deine Arbeit nicht gefallen hat?

Glücklicherweise nicht. Ich bespreche bei Auftragsarbeiten mit den Kunden vorher ganz genau, was mit dem jeweiligen Möbelstück möglich ist und was nicht. Wir stimmen gemeinsam Farbton und Design bis ins Detail ab. Die Kunden können anhand von über 100 Vorher-Nachher-Fotos auswählen, welches Design im Anschluss an den Anstrich gemacht werden soll. Das können klassische Gebrauchsspuren sein, wie bei Shabby Chic üblich, oder aber auch das Anbringen von Ornamenten, anderen Beschlägen, Wachsakzentuierungen und so weiter.

Der Auftraggeber ist bei dem Prozess der Verwandlung immer dabei, es sei denn, er sagt, dass er sich überraschen lassen will. Während des gesamten Arbeitsprozesses schicke ich dem Kunden Fotos von den Arbeitsschritten und gebe dadurch ein Gefühl von „Dabei sein“ und Sicherheit. Der Kunde kann mitbestimmen, bis das Möbelstück fertig ist – so wie der Kunde es sich vorgestellt hat.

Für das Foto hast du eine Madonna-Statue mitgebracht. Was kannst du uns darüber erzählen?

Die Statue ist von „Milchmädchen“, einer Kollegin von mir aus Paderborn. Sie ist auch ein kleiner Grund von vielen, warum es meinen Laden gibt. Ich habe ihre Annoncen lange Zeit bei E-Bay-Kleinanzeigen verfolgt. Was mir an ihr besonders gefällt, ist die Tatsache, dass ich ihre Arbeit und die Inszenierung ihrer Möbel unter vielen anderen Fotos sofort erkennen würde. Es gibt höchstens fünf Shabby-Chic-Läden in Deutschland, die Wiedererkennungsmerkmale haben und sich einfach von der Masse abgrenzen und abheben.

Als mein Opa wochenlang im Sterben lag und ich ihn so gut es ging dabei begleitet habe, musste ich meiner Seele was Gutes tun und habe Milchmädchen besucht. Und sie sagte „Mensch. Ich kann mir das bei dir total gut vorstellen. Du brennst dafür. Mach das!“ An dem Tag habe ich diese Madonna gekauft, die mich seitdem als Schutz in meinem Laden begleitet.

Hat die Statue einen Namen?

Nein. Sie ist einfach die Madonna, die sie ist. Meine Möbel bekommen allerdings alle Namen. Die Möbel haben Seele. Und Geschichte. Da brauchen sie auch Namen.

Ist mal eine Geschichte mit deinen Möbeln passiert, die hängen geblieben ist?

Ich habe im Februar für das Mood-Tape für die ARD bereits drei Tage mit Oli P. gedreht. In diesen Tagen habe ich vor laufender Kamera „Rosalinde“ designt. „Rosalinde“ ist ein Traumbuffet. Sie erhielt einen altrosafarbenen Anstrich mit bronzenen und dunklen Wachsakzentuierungen und Engelsflügeln auf den Türfüllungen. An „Rosalinde“ habe ich sehr gehangen und ich wollte unbedingt, dass sie einen besonderen Platz, ein gutes Zuhause bekommt in welchem sie geschätzt und bewundert wird.

Und dann kamen Interessenten in meinen Laden, die eine Stunde entfernt wohnen. Der Mann sagte dann zu seiner Frau, die sich gleich in „Rosalinde“ verliebt hatte, er müsse dann aber das Treppengeländer von der Wendeltreppe abbauen, wenn „Rosalinde“ geliefert wird. Und ich: „Wendeltreppe?! Passt denn das?“ Er meinte, es würde passen. Er habe Augenmaß. „Rosalinde“ ist knapp zwei Meter lang und 60 Zentimeter tief, also schon ein ziemlicher Knaller.

Also haben sie „Rosalinde“ gekauft. Ulli, mein Fahrer und die gute Seele des Ladens, machte sich dann mit „Rosalinde“ auf den Weg. Wir haben die Absprache, dass er sich immer meldet, wenn etwas ausgeliefert wurde. Und er meldete sich nicht und meldete sich nicht … Also rief ich an. Er „Du Moni, ich hab Scheiße gebaut – die Rundglasscheibe ist kaputt gegangen.“ Das günstigste Angebot für eine Ersatzscheibe, was ich bekommen habe, lag bei 1.400 Euro plus Mehrwertsteuer – den Schrank hatte ich für 800 Euro verkauft. Also Vollkatastrophe!

Hast du die Scheibe dann ersetzt?

Die Kunden haben auf ihren Schrank bestanden. Ich habe gesagt, dass es für mich unzumutbar ist, eine neue Scheibe einbauen zu lassen. Ich habe dann einige Tage später nach stundenlangem Suchen bei Ebay endlich genau den gleichen Schrank entdeckt und ersteigert. Ich war so froh. Bis die Verkäuferin mich kurz darauf anrief und mir mitteilte, dass der Schrank beim Ausräumen umgefallen sei und dabei die Rundglasscheiben zerbrochen seien!

Dann rief der Käufer von „Rosalinde“ erneut an und sagte mir, dass seine Frau „Rosalinde“ unbedingt haben möchte, auch ohne Scheiben. Also Buffet wieder verladen, Ulli wieder losgeschickt und er meldete sich wieder nicht … Irgendwann dann doch: „Du, Moni, ich hab das Buffet wieder mitgenommen“. Ich dachte echt, ich spinne. „Warum?“ „Der Schrank passte nicht durchs Treppenhaus!“

Die gute „Rosalinde“ lebt seitdem bei mir im Laden und begleitet mich als Werkzeugschrank durch meinen Alltag und darf bleiben. Anscheinend wollte sie nicht dorthin.

Hast du irgendwelche Eigenarten?

Puh. Ich geh mir selber ganz häufig auf die Nerven. Ich bin so ein Typ, der immer acht, neun Sachen gleichzeitig macht, ich suche ständig Dinge, laufe auch nach zehn Jahren in unserer Wohnung noch vor Türrahmen, stolpere über Sachen die ich liegenlasse, versuche mit meiner Zentralverriegelung die Ladentür zu öffnen, ich bin total verwirrt. Das ist so meine Eigenart. Mein Mann sagt immer, ich bin der dümmste intelligenteste Mensch, den er kennt.

Lebst du gern im Ruhrgebiet?

Ich habe einen guten Vergleich. Ich kenne das kleinere Warstein und das größere Hamburg. Für mich ist Essen perfekt. Mir war Hamburg zu viel. Zu trubelig. Ich war überfordert. Bevor ich da gelebt habe, bin ich gern am Wochenende dorthin gefahren. Das war auch immer super, aber da zu leben ist schon was anderes. Und Warstein –Da gibt es abgesehen von Familie und Freunden nichts, was es in Essen nicht auch gibt.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann und warum?

Da ich ziemlich tollpatschig bin, habe ich auf jeden Fall eine Figur von Goofy. Einen Teil würde Woody Woodpecker ausmachen, da ich auch so aktiv bin, am liebsten wäre ich aber ein rosanes Einhorn. Bis dahin bin ich so, wie ich bin.

Das Interview führten wir im November 2018.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.