Nikolaj Oehlke aus Essen

„Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich bin mit ihm groß geworden.“

Hallo Nikolaj, bitte stell dich kurz vor.

Ich bin Nikolaj Oehlke, ich bin 20 Jahre alt, komme aus Essen und bin dort auch geboren. Ich habe in diesem Jahr mein Abitur gemacht und fange jetzt ein Studium der Molekularen Biologie in Recklinghausen an.

Ein Babyfoto von dir ist auf einer medizinischen Zeitschrift veröffentlich worden. Wie kam es dazu?

Ich bin mit einem Herzfehler geboren, der zu dem Zeitpunkt noch relativ schwierig komplett zu operieren war. Ich habe eine Fallot-Tetralogie, also einen vierfachen Herzfehler, was direkt nach meiner Geburt am 28. April 1999 festgestellt wurde. Sie besteht aus vier Komponenten, daher Tetralogie: eine Verengung der
Lungenschlagader, ein Loch in der Herzscheidewand, eine über der Herzscheidewand reitenden Aorta sowie einer nachfolgenden Vergrößerung (Hypertrophie) des Muskelgewebes.

Mit drei Monaten hat Dr. Neudorf, der zu dem Zeitpunkt noch ein Assistenzarzt in der Kinderkardiologie war, eine Herzkatheteruntersuchung gemacht. Dr. Neudorf hat mich bis zu meinem 18. Lebensjahr behandelt, ich verdanke ihm wirklich viel. Danach wurde zusammen mit Dr. Urban, einem Chirurg aus Sant Augustin entschieden, dass ich sofort operiert werden soll. Unter anderem auch, weil ich noch zusätzlich hypoxämische Anfälle bekam. Bei einem solchen Anfall wurde ich sehr unruhig und ängstlich, die Pulmunalarterie, die das Herz mit der Lunge verbindet, krampft sich zusammen, die Herzfrequenz steigt extrem. Bemerkenswert war, dass das bei mir so früh gemacht wurde, an einem so kleinen Herzen.

Was hat dieser Herzfehler denn für Probleme verursacht?

Ich bin immer blau angelaufen. Man nennt uns deshalb auch „Blue Babys“. Es war einfach zu wenig Sauerstoff im System.

Musstest du nach dieser Operation nochmal ins Krankenhaus?

Bei einer Routineuntersuchung im Uniklinikum wurde festgestellt, dass meine Herzwand sich so sehr verdickt hatte, dass ich sofort operiert werden musste. Eine neue Pulmonalklappe musste in mein Herz eingesetzt werden.

Ich hatte das vorher schon irgendwie gemerkt. Ich konnte zwar zum Beispiel am Sportunterricht teilnehmen, war dann aber doch ziemlich schnell platt. Das lag daran, dass zu viel Blut durch die Herzklappe zurück floss weil ja die Arterie, in der sie saß, bei der ersten OP erweitert worden war.

Das mit elf Jahren zu erfahren, war nicht so prickelnd. Ich sollte dann eine Rinderherzklappe eingesetzt bekommen. Doch als ich schon auf dem OP-Tisch lag, gab es plötzlich einen Motorradunfall mit tödlichem Ausgang. Durch diesen tragischen Unfall konnte mir dann eine humane Klappe eingesetzt werden, da der Fahrer Organspender war.

Gab es Komplikationen bei der Operation?

Die Ärzte brauchten Stunden, um das Herz überhaupt freizulegen, weil der Brustkorb so mit Narbengewebe verwachsen war. Seitdem habe ich auch tatsächlich eine Goretex-Membran halb um mein Herz herum , falls ich doch nochmal aufgemacht werden muss. Das kann man dann leichter auftrennen, weil es ein Stoff ist, der nicht so einfach verwächst. Insgesamt ist bei mir aber alles wirklich gut gelaufen, da habe ich Glück gehabt.

Wie ging es dir nach der Operation?

Ich war total schnell wieder fit, was ungewöhnlich war. Ich weiß noch, dass ich an einem Freitag entlassen wurde, aber am Montag darauf musste ich dann direkt wieder ins Krankenhaus, weil ich eine Infektion hatte. Die ist dann nochmal mit Antibiotika behandelt worden.

Wie war die Zeit im Krankenhaus?

Ich war auf einer der kleinsten Kinderkardiologie-Stationen, die es gibt. Glücklicherweise wird diese jetzt umgebaut, es war jedenfalls richtig eng dort. Aber das war auch okay, weil ich fast nie im Zimmer war. Erst war meine Mutter, dann war mein Vater dabei und wir hatten so unsere Routinen. Zum Beispiel haben wir die ganze WM 2010 beim Public Viewing im Krankenhaus geguckt. Irgendwann bin ich auch auf die HNO-Station verlegt worden, weil einfach zu wenig Betten da waren. Da hatte ich dann ein riesiges Zimmer, das war fast ein Schock, plötzlich so viel Platz zu haben!

Was ist dir besonders im Gedächtnis geblieben?

Die Bananen! Ich musste eine Woche lang jeden Tag zwei bis drei Bananen essen. Mein Kalium-Wert war zu niedrig und damit gab es die Frage, ob ich noch viel länger im Krankenhaus bleiben muss oder ob ich entlassen werden kann. Seitdem esse ich auch keine Bananen mehr und mir wird schon schlecht, wenn ich sie nur rieche.

Funktioniert deine neue Herzklappe jetzt so, als wäre es deine eigene?

Es kann sein, dass diese Klappe für immer funktioniert, vielleicht muss sie aber irgendwann ausgetauscht werden. Das wird jetzt jedes Jahr kontrolliert. Bis ich 18 Jahre alt war, hat das immer Dr. Neudorf gemacht. Durch meine Volljährigkeit ist er nun leider nicht mehr zuständig. Als ich zum letzten Mal bei ihm war, nach 18 gemeinsamen Jahren, bin ich in Tränen auf dem Behandlungstisch ausgebrochen. Ich bin eh nah am Wasser gebaut, aber als er durch die Tür kam, dieser Mann mit seinem Bart und der herzerwärmenden Stimme, um mich ein letztes Mal zu untersuchen, konnte ich wirklich gar nicht mehr. Die Untersuchung war auch richtig schwierig, weil vor lauter Heulen so viele Störgeräusche zu hören waren. Wir haben danach noch lange darüber gesprochen, was alles passiert ist. Er ist für mich ein Mann, dem ich einfach alles anvertrauen würde.

Wie haben dich die Erfahrungen mit deiner Krankheit in so jungen Jahren geprägt?

Ich bin in manchen Dingen ehrlich abgestumpft. Wir haben im Religionsunterricht zum Beispiel über den Tod gesprochen. Dann habe ich die Meinungen von anderen Mitschülern gehört, aber verglichen mit mir, ist das einfach anders. Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich bin mit ihm groß geworden.

Trotzdem macht es mir natürlich etwas aus, wenn Menschen sterben. Einmal hat ein Freund einen Tag vor einem gemeinsamen Urlaub die Reise kurzfristig abgesagt. Seine Freundin ist plötzlich verstorben, weil sie einen Herzstillstand hatte. Sie ist einfach im Schlaf verstorben. Und sie hatte fast genau das gleiche wie ich. Ich hatte nie viel mit ihr zu tun, aber es verbindet natürlich, wenn man die gleichen Probleme hat. Das zu hören ist hart, da gibt es keine Worte für.

Du studierst Molekulare Biologie. Hat deine Studienwahl mit deinen Erfahrungen im Krankenhaus zu tun?

Ich wollte lange Zeit Lehrer werden, für Biologie und Sozialwissenschaften. Eine andere Überlegung war es, Medizin zu studieren und auch in die Kinderkardiologie gehen. Über meinen derzeitigen Weg könnte ich nun allerdings sogar in die medizinische Forschung gehen. Da muss ich mich noch entscheiden, es gibt etliche Möglichkeiten.

Meine Schwester aber hat beispielsweise erst eine Ausbildung zur Gesundheitspflegerin gemacht und dann angefangen, Molekulare Biologie zu studieren. Als nächstes seht bei ihr eine Pratikaphase zur Vorbereitung ihrer Bachelorarbeit an, die sie in einer Forschungsgruppe im Uni-Klinikum machen kann. Als sie diesen Platz bekommen hat, haben wir festgestellt: Egal was passiert, bei uns führen einfach alle Wege ins Uni-Klinikum. Selbst meine Geburt war dort, obwohl die eigentlich woanders geplant war, aber durch glückliche Zufälle bin ich da zur Welt gekommen und konnte dann auch direkt diagnostiziert und behandelt werden.

Was sind denn deine Hobbys?

Generell Computer könnte man sagen, daran rumschrauben, zocken, mache ich alles gern. Mein anderes größeres Hobby lebt nach einer Unterbrechung zur Zeit glücklicherweise wieder auf: Ich spiele Schlagzeug. Angefangen habe ich damit als ich zehn Jahre alt war. Seit einiger Zeit spiele ich auch in einer Band. Die Band heißt Text to Speech, wir hatten vor kurzem unser Einjähriges, in der jetzigen Konstellation spielen wir seit etwa einem halben Jahr. Momentan machen wir etwas, das man vielleicht als Alternative-Independent-Rock beschreiben kann, wir sind da aber eher wie eine gemischte bunte Tüte, weil wir alle noch nicht richtig wissen, wo wir hinwollen.

Hast du eine Bucket-List, mit Dingen, die du in deinem Leben gern machen willst?

Ich will viele Orte auf der Welt sehen, unterschiedlichste Orte, die sehr still sind, wo viel Natur ist. Relativ weit oben steht auch auf jeden Fall, dass ich gern mal mit meiner Band auf einem Festival spielen würde. Es muss kein großes sein, aber ich will da irgendwie hin. Vielleicht ist das inspiriert durch meinen Vater. Der war in einer Thrash-Metal-Band und hat eine kleine Europatour gemacht, ist in England gewesen. Er spielt immer noch, ich helfe mittlerweile als Roadie mit.

Welche Festivals magst du selbst?

Ich war dieses Jahr das erste Mal auf dem Hurricane-Festival, das war bis jetzt eine der besten Erfahrungen in meinem Leben. Meine Schwester und ich haben uns so großartig verstanden, wir verstehen uns eh gut, aber wir haben da richtig unser Ding durchgezogen. Wir hatten so viel Spaß, dass Müdigkeit oder Stress einfach gar nicht existiert haben.

Wir haben dort unsere Einhornkostüme von Karneval angezogen und waren damit das Highlight schlechthin. Einmal war ich kurz alleine in der Menge, als plötzlich ein Junggesellinnenabschied auf mich zukam, da war ich plötzlich die Hauptattraktion des gesamten Konzerts!

Auf Festivals trinkt man ja gerne mal das eine oder andere Bier, du auch?

Ich rauche nicht, trinke nicht, nehme keine Drogen. Tatsächlich hab ich noch nie Alkohol getrunken. Ich toleriere das alles, bei meinen Bandkollegen zum Beispiel wird gerne mal ein Bier zur Probe getrunken. Ich bin dann einfach immer der Fahrer! Das finde ich aber alles nicht schlimm, weil ich es einfach nicht einsehe, meinen Körper noch weiter zu schädigen. Ich kann auch so gut eine lustige Zeit haben.

Was magst du am Ruhrgebiet oder was vielleicht du nicht?

Ich mag die Art der Menschen. Manche würden es vielleicht als leicht asozial bezeichnen, aber das find ich nicht, ich liebe diese Offenheit und Direktheit der Leute hier. Ich möchte nie wegziehen. Hier ist alles auch in der Nähe und gut erreichbar, das ist großartig. Allerdings ist die Verkehrssituation furchtbar. Jede Straße ist kaputt, jede Autobahn ist eine Baustelle. Vor allem als junger, noch unerfahrener Autofahrer ist es grauenhaft nur durch Baustellen zu fahren, während irgendwelche Idioten an einem vorbei drängeln. Es ist wahrscheinlich wenig überraschend, dass ich auch ein sehr vorsichtiger Fahrer bin (lacht).

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?

Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt eine Hauptfigur wäre. Wenn, dann wäre ich vielleicht Spiderman, die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft. Ein Teenager, der noch gar nicht so richtig weiß, wie die Welt funktioniert und versucht, seiner Verantwortung gerecht zu werden.

Das Interview führten wir im Oktober 2019.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.