Mercedes Gerhard aus Essen

„Ich bin ein Mensch, der Gefühle rauslassen will.“

Hallo Mercedes, bitte stell dich doch kurz vor.

Ich heiße Mercedes, bin 45 Jahre alt, geboren und aufgewachsen auf der Margarethenhöhe in Essen und wohne jetzt in Borbeck.

Du heißt Mercedes – hast du spanische Wurzeln?

Nein. Mein Vater ist damals wirklich nur Mercedes gefahren. Es gab für ihn keine anderen Autos … und ich habe das leider abgekriegt. Meine Schwester hat den eindeutig besseren Namen, die heißt Jeannet.

Was machen deine Eltern?

Mein Vater hat früher bei Krupp in der Druckerei gearbeitet. Er ist früh verstorben – schon in den 90-er-Jahren an einem Lungenödem. Da war er gerade mal 58 Jahre alt. Meine Mutter vor kurzem leider auch. Ihr ist die Hauptschlagader im Bein geplatzt und sie ist innerlich verblutet. Sie hatte einen Bauchbruch und dadurch einen künstlichen Ausgang. Der sollte zurückoperiert werden, aber vorher sollte sie noch eine Katheteruntersuchung bekommen, weil sie sowieso sehr herzschwach war. Sie sind durch die Leiste gegangen und ich dachte, dass das ein harmloser Eingriff wäre. Sowas machen die doch zwischen Leberwurst und Kaffee! Aber sie haben die Wunde nicht mehr verschließen können. Als meine Mutter aus der Narkose aufgewacht ist, wurde sie sofort in ein anderes Krankenhaus transportiert, damit da der Bauch operiert werden konnte. Ich vermute, dass sie meine Mutter gar nicht hätten transportieren dürfen. Sie ist dann im Krankenhaus gestorben. Und das war wieder so ein Vorfall, der mich runtergezogen hat …

Warum „wieder“?

Ich habe Depressionen. Seit meiner Kindheit.

Es ist bei mir eine posttraumatische Belastungsstörung, wie man so schön sagt. Das wurde vor kurzer Zeit erst festgestellt. Ich weiß, dass ich mal als ich klein war bei einem Kinderpsychologen war. Aber meine Mutter wollte da nicht mehr hingehen und so konnte bei mir keine Diagnose gestellt werden. Meine Mutter hat immer gesagt „ein Psychologe braucht selbst einen Arzt“ und das war der Fehler. Man hätte meine Depressionen sicher schon behandeln können, aber so wurden sie einfach nicht festgestellt. Deshalb werden die jetzt erst behandelt.

Mein Therapeut ist aber leider vor kurzem an Corona gestorben und ich warte gerade auf einen neuen Therapieplatz.

Weißt du, was der Auslöser deiner Depressionen gewesen sein könnte?

Mein Vater ist daran mit Schuld. Mein Vater war versoffen und hat mich fast totgeschlagen. Da war ich 14. Wir wurden als Kinder oft in unserem Wandschrank eingesperrt. Ohne Grund. Licht aus. Sowas vergisst man nicht. Ich kann bis heute noch keine Tür schließen und das Licht ausmachen. Da bekomme ich sofort eine Panikattacke.

Und deine Mutter ist da nicht eingeschritten?

Meine Mutter hatte einfach keine Kraft dafür. Sie ist schon früh krank geworden. Als mein Vater gestorben ist, ist sie noch mal aufgeblüht. Das war wie eine Last, die von ihr gefallen ist. Aber sie war einfach sehr krank. Herzkrank, nierenkrank … sie musste ständig zur Dialyse. Ich habe sie bis zum Schluss gepflegt.

Das Schlimme an einer Depression ist, dass du nicht weißt, wann sie kommt. Du kannst dir werweißwas vorgenommen haben an diesem Tag, du kannst gerade glücklich sein, aber dann kommt der Hammer und dann machst du gar nichts mehr. Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Ich sitze oft da und fange grundlos an zu weinen. Das ist dann einfach so. Es gibt keinen Grund und du kannst das auch nicht erklären. Du sitzt einfach da und der ganze Körper fühlt sich an wie eine leere Hülle. Das ist das gefährliche an dieser Krankheit. Dir schießen Gedanken durch den Kopf, die du vorher so nicht hattest.

Ich finde es schade, dass dieses Thema immer noch viel zu sehr in der Öffentlichkeit totgeschwiegen wird.

Nimmst du Medikamente gegen die Depression?

Mit Antidepressiva habe ich keine guten Erfahrungen gemacht. Ich bin der Meinung, dass Antidepressiva einfach nur deine Gefühle unterdrücken. Und ich bin ein Mensch, der Gefühle rauslassen will.

Ich habe auch gute Tage – und die überwiegen auch zum Glück. Meine Hobbys helfen mir dabei. Die lenken mich ab.

Was gab es für Vorfälle in deinem Leben, die dich geprägt haben?

Es gab in meinem Leben einige Situationen und Vorfälle, die mich immer wieder runtergezogen haben. Mit 18 hat mein Exfreund mich mit dem Auto überfahren. Mit voller Absicht. Ich habe mich damals von ihm getrennt, weil ich jemand anderen kennengelernt hatte. Mein Exfreund war ein Jahr älter als ich. Als ich eines Tags dann mit meinem Walkman aus dem Haus ging, die Straße überquerte, um zu meiner Führerscheinprüfung zu fahren, kam er mit über 50 km/h aus der Seitenstraße rausgerast. Ich bin noch zur Seite gesprungen, sodass er nur meine rechte Seite erwischt hat. Ein Passant hat dann wohl einen Krankenwagen gerufen, denn ich kam erst im Krankenhaus zu mir und hatte riesige Stäbe in meinem Bein. Ich saß zwei Jahre lang im Rollstuhl, weil ich mir in der Wirbelsäule einen Nerv eingeklemmt habe.

Wurde der Täter bestraft?

Er hat seine Strafe bekommen, nur ich leider das Schmerzensgeld noch nicht. Ich habe bis heute noch einen Anspruch darauf, aber er verdient nicht genug – oder will es nicht, um seine Schulden bezahlen zu können. Er kommt nicht über den Mindestlohn und der ist nicht pfändbar.

Gab es noch einen Vorfall?

Mit 29 Jahren war ich schwanger von meinem damaligen Freund. Da habe ich gedacht, jetzt könnte ich ankommen. So mit Heirat, Familie und Haus … Aber mein Freund hat abgestritten, dass das Kind von ihm sei. Das war natürlich eine Ausrede und völliger Quatsch. Es ist dann zum Streit gekommen und ich habe ihm gesagt, dass ich das Kind auch ohne ihn großziehen würde. Ich bin dann ausgezogen und übergangsweise bei meiner Mutter eingezogen.

Als ich etwa im achten Monat schwanger war, war ich abends draußen unterwegs auf dem Heimweg. Da gingen bei mir auf einmal die Lichter aus und ich bin erst im Krankenhaus wieder aufgewacht.

Was ist passiert?

Mein damaliger Freund hat mir so einen Tritt in den Bauch verpasst, dass mein Kind gestorben ist. Mein Bauch war grün und blau. Das Baby musste rausgeholt werden. Das Problem war nur, dass ich einige Zeit im Koma lag und es etwas dauerte, bis ich wieder aufgewacht bin. Sie haben dann künstliche Wehen eingeleitet und das Kind auf natürlichem Weg geholt.

Hast du dein Kind gesehen?

Ja. Ich wollte meinen Sohn sehen. Er hatte sogar rote Haare. Und ich wollte ihn beerdigen lassen. Ich habe ihn Dorian genannt.

Und wurde der Vater dafür zur Rechenschaft gezogen?

Ja. Ich hatte ihn ja nicht wirklich gesehen, aber er hat es damals als eine „Heldentat“ verkauft und damit geprahlt. Er ist dafür bestraft worden.

Wie verkraftest du das alles?

Ich habe schon oft über Selbstmord nachgedacht. Vor drei Jahren hat sich mein bester Freund in den Kopf geschossen. Er hatte auch Depressionen. Er ist diesen Schritt gegangen – und das ist ein sehr großer Schritt. Ich wusste nicht mal, dass er Depressionen hatte. Und gerade ich hab mich sehr geärgert, dass ich das nicht gemerkt habe.

Ich war auch an diesem Punkt, aber ich habe immer noch den Gedanken im Kopf, dass ich viel zu gerne lebe. Und mir haben auch Menschen geholfen – das waren keine Therapeuten, sondern Freunde. Freunde sind manchmal eine gute Therapie.

Wie verlief deine Ausbildung?

Ich bin in der zweiten Klasse in der Grundschule sitzengeblieben – war also fünf Jahre lang in der Grundschule. Dann habe ich zur Hauptschule gewechselt. Da war ich aber nicht lange. Da fing es an, dass ich sehr oft Magenkrämpfe hatte und über 1.000 Fehlstunden. Ich wollte einfach nicht zur Schule gehen. Da fing es schon an, dass ich Depressionen hatte. Nach der siebten Klasse bin ich mit einem Abschlusszeugnis von der Hauptschule abgegangen und habe später alles in einer Abend-Realschule nachgeholt. Innerhalb eines Jahres habe ich dann einen Realschulabschluss gemacht und habe dann eine Ausbildung als Fahrzeuglackiererin bei Opel gemacht.

Hast du noch bei Opel gearbeitet, als das Werk geschlossen wurde?

Nein. Nach der Ausbildung wurde ich nicht übernommen. Ich habe dann zwei Jahre bei Mercedes gearbeitet.

Warum nur zwei Jahre?

Das war total blöd. Ich hatte mich stark erkältet und nach der Erkältung ging mein Husten einfach nicht weg. Und Husten beim Autolackieren ist nicht so förderlich … Ich war dann beim Lungenfacharzt und der hat mich leider komplett berufsunfähig für meinen Job geschrieben. Es wurde Asthma und chronische Bronchitis bei mir diagnostiziert. Das war für mich schon ein Schock.

Und was hast du dann gemacht?

Ich habe hier und da mal gearbeitet: bei Edeka als Aushilfe, bei der Diakonie im Büro, aber es hat mich alles nicht wirklich ausgefüllt und ich wurde immer kränker. Zusätzlich habe ich noch COPD gekriegt, Arthrose in den Knochen, anfangende Gicht und die Folgeschäden von dem Autounfall hat man auch immer wieder gemerkt. Ich wusste nicht, was ich sonst noch arbeiten könnte. Die Arbeitsagentur hat schließlich gesagt, ich wäre unvermittelbar und solle doch Erwerbsminderungsrente beantragen, was ich dann auch getan habe. Ich wollte es nicht, aber ich habe einfach starke Schmerzen und merke auch, dass ich nicht wirklich arbeitsfähig bin. Es passt mir nicht, aber ich habe auch keinen anderen Weg gesehen.

Hast du Hobbys?

Fotografie! Ich fotografiere auf verschiedenen Events, zum Beispiel auf der American Horsepower Show, ComicCons oder ähnlichen hobbymäßig Autos, Cosplayer und Impressionen. Ich bin viel unterwegs und mag einfach diese Stimmung auf den Veranstaltungen.

Als ich das erste Mal auf der ComicCon in Dortmund war, war ich total geflasht. Das war eine andere Welt. Das war so ungefähr 2017 oder 2018. Da habe ich das erste Mal Cosplayer fotografiert. Total cool. Ich war echt fasziniert und habe so mein Hobbyspektrum nicht nur auf Autos fokussiert, sondern erweitert um Menschen.

Ich sage immer, eine Fotografie ist der Spiegel der Seele. Du erkennst auf einem Foto sogar, ob jemand depressiv ist. Du musst nur genau hingucken …

Was magst du am Ruhrgebiet und was nicht?

Ich finde unsere Innenstadt potthässlich. Und schade, dass sie so ausstirbt. Und ich mag Zollverein nicht. Und total blöd, dass immer nur Zollverein als Aushängeschild von Essen genannt wird. Wir haben den Baldeneysee oder die Kettwiger Innenstadt: Die ist doch auch schön! Wird aber nie erwähnt. Aber ich bin hier aufgewachsen und mich zieht auch nichts weg. Auch nicht für Urlaub. Ich hatte noch nie Fernweh oder sowas. Wenn ich Urlaub mache, fahre ich nach Hamburg zu einem Freund, aber nie ins Ausland. Ich war einmal in Tschechien, aber sonst nirgendwo. Ich bleibe immer da, wo ich mich am wohlsten fühle.

Wenn das Leben ein Comic wäre, wer wärst du dann?

Gollum! Oder der Grinch oder sowas. Ich kann lieb, aber auch fies sein. Ich kann ein unglaubliches Arschloch sein, aber dann bin ich auch wieder sehr hilfsbereit. Das passiert mir oft. Ich mache und tue, aber bekomme dann nichts zurück. Gollum würde dann wohl sowas sagen wie: „Wir sind zu hilfsbereit …“

Das Interview führten wir im April 2022.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.