Markus Grimm aus Moers

„Ich bin auf die Bühne geflüchtet.“

Hallo Markus. Stell dich doch kurz vor.

Ich bin Markus Grimm. Ich bin 37 Jahre alt und wohne in Moers. 2004/2005 wurde ich durch Popstars bekannt. Ich habe in der Band Nu Pagadi gesungen. Ich stehe in verwandtschaftlicher und künstlerischer Verbindung zu den Brüdern Grimm und bin aktuell Künstler und Autor.

Liegt Moers eigentlich noch im Ruhrgebiet?

Gerade noch so, aber wir Niederrheiner legen ja auch sehr viel Wert darauf, dass es eben der Niederrhein ist. Wenn ich das nicht erwähne, wird mir der Wikipedia-Eintrag als „Sohn der Stadt Moers“ mit Sicherheit entzogen. Ich bin ein Dorf-Stadt-Kind. Moers hat mir viel gegeben. Das ist Heimat. Ich gehör da zum Inventar und das ist auch ok so. Ich habe auch schon woanders gewohnt, aber bin doch immer wieder zurückgekehrt.

Wie war deine Kindheit in Moers?

Es war alles dabei. Während meiner Schulzeit bin ich sehr gemobbt worden. Einfach, weil ich ein Grimm bin und der kleine Junge mit den schiefen Zähnen war. Meine Mutter hat damals einen Ahnenbrief mit in die Schule gebracht, um meinen Mitschülern, die mir immer auf die Fresse gehauen haben, zu zeigen, dass es wirklich stimmt. Dass ich tatsächlich mit den Gebrüdern Grimm verwandt bin. Damit hat sie ihnen leider nur die Vorlage gegeben, mir erst Recht auf die Nase zu hauen. So bin ich desöfteren auf dem Schulhof in der Papiertonne gelandet.

Was hast du dagegen gemacht?

Ich bin auf die Bühne geflüchtet, weil ich da anderthalb Meter über den Leuten stand, die mich geschlagen haben. Ich war so einfach aus der Reichweite. Wenn ich Theater gespielt habe, war ich unantastbar. Was nicht verhindert hat, dass ich in der nächsten Pause wieder auf der Abschussliste stand. Ich muss echt scheiße gewesen sein. Ich passte einfach nicht ins Normbild der 90-er. Ich saß immer hinten in der letzten Reihe mit meinem Walkman und habe Queen gehört. Ich war nie Teil einer Clique. Ich habe als Kind sehr hässliche Zähne gehabt, weil ich mit drei Jahren gegen eine Schaukel gelaufen bin. Die Zähne oben sind dann lange im Zahnfleisch geblieben und als sie kamen, waren sie schief. Solange ich nicht ausgewachsen war, konnte man da nichts daran machen. Deswegen war immer einer der Sprüche, die ich mir anhören musste: „Du stinkst aus dem Mund wie ´ne Kuh aus’m Arsch.“ Ich habe heute immer noch ständig Kaugummi dabei. Das ist geblieben. Ich würde auch nicht sagen, dass ich selbst Schuld hatte. Was hätte ich denn machen sollen? Da war auch sicher viel Neid dabei. Weil ich eben meinen Fluchtweg gefunden hatte. Und weil die Lehrer mich oft ganz cool fanden, wenn ich die Hexe Wackelzahn gespielt habe oder mit ersten Gedichten und Geschichten Welten erschaffen habe.

Die Bühne war dein Zufluchtsort. Hast du diesen Weg auch beruflich eingeschlagen?

Mein Vater war Schifffahrtskapitän, meine Mutter Hausfrau, mein Bruder ist Kapitän- und Hafenmeister, meine Schwester hat in dem Schifffahrtsunternehmen, wo mein Vater Kapitän war, ihre Ausbildung gemacht, und dann kam ich. Und ich wollte Theater spielen und Musik machen. Ich bin aufgewachsen mit dem Satz „Ich bin mit 14 von Zuhause weg und kam als Kapitän wieder. Was ist dein Weg, mein Sohn?“ Meine Antwort darauf war immer: „Papa. Das war 1800. Das funktioniert heute nicht mehr so. Wir haben 1990.“ Alles, was ich machte war brotlose Kunst. Also für meinen Vater – für mich nicht! Nach der Schule habe ich ausgerechnet mit den Jungs, die mich früher auf dem Schulhof und Bolzplatz gemobbt haben, eine Band gegründet. Die wollten mich als Sänger. Ich bin in einen Musicalverein eingetreten und habe da meine erste Musicalstory geschrieben, die dann auch aufgeführt wurde. In der Zeit vor der Musicalpremiere hatte ich mit meinen Eltern bestimmt ein halbes Jahr kaum geredet. Weil ich in der Zeit auch bei Schauspielschulen vorgesprochen habe und mein Vater damit einfach nicht einverstanden war. Meine Eltern sind aber dann zur Premiere gekommen, haben sich das Stück angesehen und mein Vater kam danach zu mir. Er sagt einfach nur: „Ja schön. Aber eben brotlos.“

Hast du auch eine klassische Berufsausbildung?

Ich habe tatsächlich während der Schulzeit nur eine einzige normale Bewerbung geschrieben. Was man eben macht, um eine klassische Ausbildung zu finden. Weil meine Eltern wollten, dass ich was Vernünftiges lerne. Ich war also beim Bildungszentrum an so einem Computer, wo man eingeben konnte, was man gerne macht und was einem liegt, um den passenden Ausbildungsberuf zu finden. Ich hab da alles eingegeben, damit Schauspiel und Musik rauskommt: mit Menschen zu tun haben, usw. Und da empfiehlt diese blöde Kiste mir „Verkäufer“. So bin ich Verkäufer bei Obi geworden. Und da hab ich meinen Morgen mit Feinripp-Unterhemden-tragenden nach Bier riechenden Bauarbeitern verbracht und hab denen Zement verkauft. Menschen die eben so hart arbeiteten wie mein Vater. Um sprachlich beim Theater zu bleiben, ich war in dieser Rolle einfach fehlbesetzt.

Aber die Rollen wurden im Laufe der Zeit besser. So habe ich danach in einer Behindertenschule meinen Zivildienst gemacht. Da ist mir aufgefallen, dass mit den Behinderten in der Schule nur Schattentheater aufgeführt wurde. Hinter einem Bettlaken konnten sie mit Lampen angestrahlt spielen. Und ich fragte mich warum. Nach dem Zivildienst hat mir mein Vater den Geldhahn zugedreht und ich bin nach Wien abgehauen. Da habe ich als Au-Pair in einer Familie gelebt, zu der ich immer noch guten Kontakt habe. In Wien habe ich mich selbst gefunden und verloren. Ich war ein Fremder in der Stadt und eben nicht mehr der kleine Junge vom Niederrhein. Da habe ich dann mit 20 die Schwulenszene unsicher gemacht. Ich habe da sehr viele Leute kennengelernt, die Schauspiel studiert haben. Es war eine faszinierende Zeit.

Warum bist du dann von Wien wieder hierhergezogen?

Mit 21 habe ich einen Termin für ein Vorsprechen für einen Theaterpädagogikplatz in Neuss bekommen. Da waren echt nur strickpullitragende Grundschullehrerinnen und vollwertige Pädagogen. Ich habe von meinen Erfahrungen mit den behinderten Kindern erzählt, die nur Schattentheater spielen durften und wie schade ich das fand. Da haben die mich angenommen und ich habe mit den ganzen coolen Muttis als einziger Typ Theaterpädagogik studiert. Das war der erste Jahrgang, den es gab. Der Schein lag jetzt fast 15 Jahre lang rum und jetzt bin ich seit einem Jahr festangestellter Theaterpädagoge in einer Jugendeinrichtung und mache da Musikprojekte. Manchmal brauchen Sachen einfach Zeit. Denn als ich fertig war mit dem Studium, kam Popstars. Und ab da raste die Zeit.

Wie lief das mit Popstars ab?

Ich habe mich damals bei Pro7 beworben, weil sie Songwriter und Musiker für eine außergewöhnliche Staffel gesucht haben. In dem Jahr wollten die wohl wirklich mal was machen, was mit Musik zu tun hatte. Ich bin dann zusammen mit meiner Band nach Düsseldorf zum Casting gefahren. Wir waren eine NewMetal-Rock-Band und wir haben als einzige ein komplettes Line-up aufgebaut und haben da einen Song gerockt. Lukas Hilbert, der in der Jury saß, meinte dann, ich solle mal ohne Band vorsingen. Und dann kam nur der Satz „Jetzt musst du dich entscheiden. Willst du den Weg alleine weitergehen und dafür deine Jungs verlassen?“ so ganz dramatisch. Ich hab nur gesagt „Klar, mach ich!“ Ich hatte das ja vorher mit meiner Band abgesprochen, weil ich auch dachte, ich flieg da eh raus. Die suchen mich nicht. Aber ich kann vielleicht ein bisschen Werbung für die Band machen und wir müssen nicht immer nur im Jugendheim im Keller spielen sondern können vielleicht mal in einem netten Clubcafé in Köln auftreten.

Ja. Und dann hab ich die Scheiße gewonnen. Das war so nicht geplant. Die haben mich bei meinem Ehrgeiz gepackt und dann bin ich losgelaufen. Ich hab 16 Kilo auf dem Weg verloren und am Ende der Zeit waren nicht nur 16 Kilo weg, sondern auch meine Freude an der Musik. Das war eben nicht das, was man sich vorgestellt hat. Man hat sich immer gedacht, man steht da auf der Bühne und hat seine Plattenfirma im Rücken. Man kann frei sein, sein Leben bestreiten und macht seine Musik. Aber irgendwie war es das nicht. Vielleicht waren wir mit unserer Musik aber auch der Zeit voraus. Nach uns kamen Tokio Hotel, LaFee und die ganzen Rockgeschichten, die plötzlich funktioniert haben.

Wie war letztendlich die Auflösung der Band?

Wir waren zu dem Zeitpunkt sowieso nur noch zu dritt. Doreen war schon raus. Und dann war irgendwann einfach still und leise Ende. Und es war auch gut so. Weil man dann nicht noch mehr verbrannte Erde hinterlässt. Heute erinnern sich die Leute an uns und denken vielleicht „ach, war eigentlich ganz cool“.

Und was kam danach?

Ich hatte das Glück in meiner Zeit mit der Band eine handvoll toller Leute kennengelernt zu haben. So arbeite ich nun seit über 10 Jahren mit dem Komponisten Richard Geppert zusammen und schreibe Songtexte für seine Projekte und Musicals. Mit Michael Grimm und Stefan Breuer habe ich zwei erfolgreiche Kindermusik-Produzenten an meiner Seite die an meine Texte glauben. Wir haben in den letzten Jahren einige CDs zusammen veröffentlicht, wie zum Beispiel das offizielle Liederalbum zu dem Buchklassiker „Der kleine Prinz“. Im Frühjahr 2017 folgt die CD zu der unglaublich erfolgreichen Kinderserie „Mascha und der Bär“ bei der ich wieder Songtexte schreiben durfte. 2012 kam die Anfrage von Universal zum 200-jährigen Jubiläum der Gebrüder Grimm, ob Michael Grimm und ich nicht zusammen eine Märchen-CD machen würde. Wir haben erst Bedenken gehabt und überlegt ob man eine weitere Märchen-CD braucht, aber dann zugesagt. Wir wollten und durften es auf unsere eigene Art machen und haben die Märchen mit neuer Musik und neuen Liedern vertont. Natürlich gab es auch ein Fotoshooting im historischen Fummel.

Ich hab nicht damit gerechnet, dass das so eine Welle schlägt. Wir haben uns eine junge Regisseurin in Schwerte gesucht, Sina Weber, und haben mit ihr ein Stück gebastelt. Daraus wurde tatsächlich ein abendfüllendes Comedyformat, was auf Märchen basiert. Seitdem treten wir damit jeden Winter auf. Dieses Jahr erscheint im Herbst das Liederalbum dazu mit den ganzen Songs aus den Märchen.

Und jetzt schreibst du?

Ich bin Autor. Und wenn es um die Musik geht, bin ich gerade eher Geschichtensänger. Das passt gut zu den Projekten, die gerade anstehen.

Ich habe immer schon geschrieben. Ich hätte aber nie gedacht, dass ich damit mal mein Leben bestreite. Ich habe jahrelang dafür gebraucht, dass die Zeitungen hinter meinem Namen nicht mehr Nu Pagadi oder Popstars schreiben. Jetzt steht da Künstler und Autor. Das ist vielleicht der größte Erfolg, den ich jemals erreicht habe.

Was hast du für Bücher geschrieben?

Ich habe zum Beispiel einen Amazon-Bestseller geschrieben: „Sex, Drugs and Castingshows“ zusammen mit Martin Kesici. Natürlich hast du bei sowas immer autobiografische Züge mit drin. Aber ich versuche das ganze immer mit einer augenzwinkernden Seite zu verpacken.

Mein Lieblingszitat ist von Aerosmith: „Life is a journey, not a destination.“ Und so lebe ich auch. Ich habe zum Beispiel auch Kinderbücher rausgebracht und Hörbücher. Manchmal bin ich in Dinge einfach reingestolpert, aber ich habe sie dann auch durchgezogen. Zum Beispiel dieses Kinderkochbuch. Das hätte es eigentlich gar nicht gegeben. Aber ich betrunken! Das ist eine ganz witzige Geschichte: Ich hatte ein Kinderbuch geschrieben: „Fleckies Reisen“. Inspiriert durch einen Marienkäfer in meinem Auto, den ich mal mit nach Köln genommen hatte. Ich dachte „Wenn der jetzt in Köln aussteigt, der kennt da ja keine Sau!“. Das hatte ich meinem Verleger erzählt und wir haben das Buch dann realisiert. Da hieß es dann auch wieder „Du bist doch ein Grimm. Du kannst doch Märchen schreiben.“ Das verfolgt mich eben immer wieder. Dann hab ich das einfach gemacht und es war toll. Wer hätte das erwartet von jemandem, der bei Popstars mitgemacht hat?

Dann war das Buch fertig und mein Freund Martin Kesici war bei mir. Wir haben in einem Rockclub – im Pulp – gefeiert und mein Verleger rief mich auf dem Handy an und wollte mir sagen, dass das Buch aus der Druckerei zurück ist. Den Anruf habe ich allerdings verpasst und er hat es mir auf die Mailbox gesprochen. Irgendwann nachts habe ich die Mailbox abgehört und ihm daraufhin angetrunken wie ich war auf die Box genuschelt „Finnichsupperfleckisspeisen“ und hab aufgelegt. Am anderen Morgen hatte ich wieder eine Nachricht von ihm und er sagte „Fleckies Speisen! Find ich super! Das machen wir! Ein Kinderkochbuch!“ Ich war total baff, aber was hab ich gemacht? Ein Kinderkochbuch. Das erste Buch war noch nicht mal draußen, da haben wir schon das zweite geplant. Ich habe alle möglichen Bekannte angerufen, ob sie mitmachen würden und ein Rezept schicken könnten. Martin Kesici hat türkische Nudeln mit Joghurt beigesteuert, Christian Rach die Fischstäbchen, von Brian May von Queen wurde mir ein Rezept von dem Nachtisch seiner Oma geschickt und ich hab zu den Rezepten Geschichten geschrieben. Und das war dann Fleckies Speisen. Was nur entstanden ist, weil ich angeheitert auf eine Mailbox gesprochen habe. In den letzten Jahren sind viele Geschichten und Songtexte entstanden. Aktuell arbeite ich mit einem Münchner Verlag und tollen Musikern an einem Buch mit CD unter dem Arbeitstitel „Märchen, die das Leben schrieb.“ Die 16 Kilo sind längst wieder da und nun auch endlich wieder der Spaß an der Musik.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?

Spiderman. Ich fand den immer cool, weil er mit seinem Netz einen doppelten Boden hat. Er kann zwar nicht richtig fliegen, aber er ist immer schnell weg von da wo er vorher noch stand. Und er ist ein Charakter, der sich nichts sagen lässt und sein Ding durchzieht.

Das Interview führten wir im Februar 2017.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.