Jenny Schumacher aus Essen

„Mit Menschenkenntnis und Bauchgefühl ist es egal, wo du auf der Welt bist.“

Hallo Jenny, stell dich bitte kurz vor!

Mein Name ist Jenny Schumacher, ich bin 32 Jahre alt und wohne seit neun Jahren in Rüttenscheid. Ich komme ursprünglich aus dem Kreis Soest – aus einem kleinen Kaff in der Nähe vom Möhnesee. Das Ruhrgebiet hat mich aber schon immer angezogen!

Nach Essen kam ich 2009, damals habe ich ein Angebot von der Onlineredaktion der WAZ bekommen. Ich kannte Essen vorher nur grob und wusste nicht, in welchem Stadtteil ich leben möchte. Dann kam die Empfehlung von Freunden: „Jenny, zieh auf jeden Fall nach Rüttenscheid. Da gibt’s nette Kneipen und Cafés und da kann man gut ausgehen.“ Ich dachte: „Das klingt gut!“, also war die Sache entschieden.

Seit 2012 arbeite ich auch wieder für die gedruckte Ausgabe der WAZ, wobei Online und Print immer mehr eins sind. Ich bin vor allem für Rüttenscheid und das Essener Südviertel zuständig. Ich schreibe aber auch gerne über Kultur in ganz Essen, zum Beispiel über das Nord Open Air, das Turock Open Air und Konzerte in der Zeche Carl oder auf Zollverein.

Wie bist du zur Zeitung gekommen? Was hast du studiert?

Ich wollte immer studieren und mich in Bochum für Geschichte und Politik einschreiben. Aber es kam anders. Ich habe schon mit 14 angefangen, für die Westfalenpost zu arbeiten – los ging‘s mit einem Schülerpraktikum, danach wurde ich freie Mitarbeiterin. Ich fand schon damals toll, zu schreiben und unterschiedliche Menschen zu treffen.

Noch bevor das mit der Uni so richtig konkret wurde, hat mir die Westfalenpost Hagen ein Volontariat angeboten – das hieß: zwei Jahre journalistische Ausbildung in Redaktionen plus Seminare an der Journalistenschule Ruhr hier in Essen. Da hab ich natürlich Ja gesagt! Ein Volontariat wollte ich nach dem Studium sowieso noch machen. Also habe ich die Uni auf später verschoben. Bei der Westfalenpost habe ich dann die große Tour durchs Sauerland gemacht: Meschede, Brilon, Arnsberg … Das Gute war: Man muss dort viele Steine umdrehen, um gute Geschichten zu finden. Aber es gibt sie! Die Westfalenpost war eine gute Schule für mich.

Also Berichte über Schützenverein und Co.?

Ich habe tatsächlich über den Kaninchenzuchtverein und den Geflügelzuchtverein berichtet. Dabei wollte mir ein zwölfjähriger kleiner Nachwuchszüchter, der in seinem Hobby riesig aufgegangen ist, ganz stolz seine Küken präsentieren. Wir sind in den Stall gegangen, wo die Küken in einer Box warteten. Doch leider war die Wärmelampe ausgefallen – und alle Küken tot. Das war unglaublich traurig und tat mir unfassbar leid!

Wie ging es nach dem Volontariat weiter?

Kurz nach dem Volo, da war ich Anfang 20, wurde eine Stelle in Soest frei. Also in meiner Heimat, wo ich auch mein Abitur gemacht habe. Ich liebe Soest und bin dort bis heute sehr gerne. Also habe ich mich auf die Redakteursstelle beworben und es hat geklappt. Deshalb hab ich mir das mit der Uni bis heute geknickt, da es ja eh mein Ziel war, als Redakteurin zu arbeiten. Aber auch ohne ein Studium hatte ich meine Sturm-und-Drang-Zeit. Ich bin viel gereist und habe viele Freunde in ihren Auslandssemestern besucht.

Wie hast du den Umbruch in der Medienbranche erlebt?

Ich war sehr direkt davon betroffen, denn 2009 wurde die Lokalredaktion in Soest komplett geschlossen. Die Mitarbeiter wurden dann auf andere Redaktionen verteilt. Mir wurde angeboten, nach Meschede im Sauerland zu wechseln. Aber ich sag mal vorsichtig: Mit 21 ist Meschede nicht unbedingt The Place To Be.

Was hast du gemacht?

Ich habe mir abends mit einem Glas Rotwein überlegt, was der beste nächste Schritt für mich ist. Studieren war ja immer noch eine gute Option. Doch noch bevor ich abschließend entschieden hatte, fragte mich ein ehemaliger Volo-Kollege, ob ich nach Essen in die Onlineredaktion kommen will. Der Onlineauftritt der WAZ, derwesten.de, wurde damals weiter ausgebaut. Es sollte mehr vor Ort mehr passieren, Reporter mit Videos berichten und so weiter. Das war genau das, worauf ich Bock hatte, denn es war digital und zukunftsweisend. Essen kannte ich ja schon durch die Journalistenschule und es war immer mein Masterplan, irgendwann dorthin zu ziehen – spätestens mit 30. Die Kleinstadt war mir auf Dauer einfach zu klein.

Deine Geschichten findest du inzwischen also in Essen.

Als ich nach drei Jahren in der Onlineredaktion die Chance bekam, die Zeitungsseite für Rüttenscheid und Südviertel zu übernehmen, habe ich sofort ja gesagt. In der Onlineredaktion saß ich dann doch sehr viel am Schreibtisch – ich wollte wieder mehr vor die Tür. Ich finde es gut, dass die WAZ wieder mehr auf lokale Berichterstattung setzt. Das ist es, was die Leute lesen wollen und wovon regionale Tageszeitungen leben. Was allgemein in Deutschland passiert, kann man überall lesen. Das ist nicht exklusiv. Die Menschen, die hier leben, wollen wissen, was mit ihrem Stadtteil passiert. Zum Beispiel: Was macht das mit Rüttenscheid, wenn tausend neue Wohnungen entstehen?

Wie siehst du denn das Thema Wohnungsbau in Rüttenscheid?

Ich glaube, dass wir in der ganzen Stadt neue Wohnungen brauchen. Die können auch ruhig in Rüttenscheid geschaffen werden. Allerdings ist in letzter Zeit sehr schnell viel abgerissen und neu gebaut worden – das hätte man behutsamer machen können!

Zum Beispiel an der Köndgenstraße, das ist im Wohnviertel zwischen Grugahalle und Rüttenscheider Straße. Dort wurden viele ehemalige Goldschmidt-Wohnungen abgerissen, also Wohnungen, die an Mitarbeiter des Chemieunternehmens Goldschmidt vermietet waren. Heute gehört Goldschmidt zu Evonik. Ich habe für die WAZ eine 90-jährige Frau getroffen, deren Mann bei Goldschmidt gearbeitet hatte und die nach 70 Jahren aus ihrer Wohnung raus musste. Unglaublich tragisch.

Die Wohnungen waren inzwischen an Viva West verkauft worden und es wurde alles platt gemacht. Natürlich sind diese Wohnungen architektonisch kein Meilenstein, aber trotzdem gute, alte Bausubstanz. Und da frage ich mich: Warum muss man das jetzt alles abreißen und neu bauen? Die 90-jährige Frau musste zu ihrem Sohn nach Süddeutschland ziehen und ist dort wenige Monate nach dem Umzug verstorben. Einen alten Baum verpflanzt man nicht – das trifft hier wohl zu.

In solchen Momenten wird deine Arbeit also sehr persönlich?

Ja, ich finde das einfach so schade. Ich bin überhaupt kein Gegner von moderner Architektur. Aber diese kleinen Häuser an der Köndgenstaße, wo es sich die Mieter echt nett gemacht hatten, da frage ich mich: Muss das jetzt sein? Die Menschen haben da lange gewohnt, die Gärten mit viel Liebe gepflegt; immer zur Miete, aber es wurde jahrzehntelang gesagt, dass sie irgendwann mal eine Kaufoption hätten – die es dann aber eben letztendlich nicht gab. Die Mieter wurden vor die Wahl gestellt: Klagen oder eine Abfindung nehmen und sich ein neues Leben aufbauen.

Glaubst du, Journalismus kann da etwas verbessern?

So einen ganzen Prozess wie an der Köndgenstraße zu begleiten, finde ich sehr spannend. Ich kann natürlich so direkt nichts ändern, aber ich kann es aufschreiben. Das sind genau solche Geschichten, die nur in der WAZ stehen – und die die Menschen interessieren und vielleicht auch miteinander vernetzen. Persönlich denke ich, dass es mehr sozialen Wohnungsbau geben sollte. Mieten von zehn oder elf Euro pro Quadratmeter kann sich nicht jeder leisten. Es sollte mehr an die Menschen gedacht werden, die hier leben möchten, als an die Investoren.

Du hast zur Landflucht aus dem Sauerland beigetragen – willst du irgendwann dorthin zurück?

Nein. Da ist zwar alles kuschelig und süß da und ich fahre regelmäßig mit meinem Sohn meine Eltern besuchen. Die Allerheiligen-Kirmes in der Heimat ist für mich immer ein Pflichttermin und – ja – einmal im Jahr gehe ich auch aufs Schützenfest. Aber ich habe schon mit zehn zu meiner Mutter gesagt, dass ich wegziehen will. Mir war das in unserem kleinen Örtchen zu langweilig. In die Natur gehen und Baumhäuser bauen ist als Kind zwar schön. Aber ziemlich schnell kommt der Zeitpunkt, an dem du keine Lust mehr hast, deine Eltern zu fragen, ob die dich durch die Gegend kutschieren. Öffentliche Verkehrsmittel sind in meiner Heimat ja leider ziemliche Mangelware.

Wie alt ist dein Sohn?

Vor 16 Monaten ist Fritz zur Welt gekommen. Er heißt wie seit Uropa, der früher im Süthers Garten in Rüttenscheid gewohnt hat. Seit gut drei Monaten arbeite ich wieder, momentan in Teilzeit. Es ist ganz gut, aus dem Mutter-Mikrokosmos wieder raus zu sein. Es ist natürlich ein lachendes und ein weinendes Auge dabei – auf der Arbeit fehlt mir manchmal mein Kind. Aber dafür hat er jetzt andere Kinder zum Spielen – das könnte ich ihm ja nicht bieten.

Wie findest du es, Mutter zu sein?

Das Jahr Elternzeit habe ich sehr genossen! Fritz und ich haben viel zusammen unternommen. So viel Zeit für ihn zu haben, war schon toll. Und seine ganze Entwicklung mitanzusehen! Jetzt läuft er und fängt an zu sprechen und Quatsch zu machen und knutscht dich morgens wach. Von dem kleinen Würmchen, das überhaupt nichts konnte, zu ihm jetzt – das ist echt das Spannendste, was ich je erlebt habe. Das hätte ich vorher nie gedacht.

Wie hast du deinen Partner kennengelernt?

Ich habe Tim bei Rock am Ring getroffen, über gemeinsame Bekannte. Unsere Freundeskreise haben sich etwas überschnitten und er war auch auf den Partys in der WG, in der ich zu Beginn in Essen gewohnt habe.

Hast du etwas Besonderes in deinem Leben erlebt, von dem du erzählen möchtest?

Mein Kind und alles drumherum ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Seine Geburt war gleichzeitig das Schönste und das Schrecklichste, was ich je erlebt habe. Das war mit Komplikationen verbunden. Er hatte einen Neugeborenen-Infekt und wir wurden vom Krupp-Krankenhaus ins Elisabeth-Krankenhaus verlegt. Wenn du als frisch gebackene Mutter unter der Hormondusche stehst, ist das alles die Hölle. Die Blutwerte von dem Kleinen waren schlecht, er musste mit dem Rettungswagen transportiert werden. Es war fürchterlich. Ich habe echt nicht nah am Wasser gebaut, aber das alles hat mich richtig aus den Schuhen gehauen. Ich brauchte erstmal ein paar Tage, um wieder klarzukommen. Alle Leute haben schon gratuliert und sich richtig gefreut. Aber ich selbst hatte da erst mal gar keinen Sinn für und wollte mich nur ganz auf das Kind konzentrieren.

Hat dein Kind dich verändert?

Ja, die Erfahrung hat mir ganz andere Perspektiven eröffnet. Ich weiß jetzt, dass es auf der Arbeit auch ohne mich läuft, ich aber niemals für mein Kind zu ersetzen bin. Dieser Fokus hat mir vorher gefehlt. In der Branche kniet man sich sehr in seinen Job rein und gibt viel. Das ist manchmal schon etwas selbstausbeuterisch.
Ich bin sehr glücklich und zufrieden mit dem, was ich jetzt habe. Und ich bin sehr dankbar, dass wir zusammen mit Tims Eltern und seiner Oma in einem Haus leben. Ich habe ganz tolle Schwiegereltern, die uns mit dem Kleinen viel unterstützen.

Reist du gerne?

Ich bin immer viel und sehr, sehr gerne gereist. Mit meiner Cousine, die in Dortmund lebt, bin ich nach Thailand geflogen, um einen Backpacker-Urlaub auszuprobieren. Das war toll. Und ein Jahr später sind wir nach Mexiko gereist. Immer ohne festen Plan und sehr spontan. Wir waren nie in Luxushotels, weil wir das nicht wollten. Lieber Geld sparen und dafür länger bleiben. Da ist sehr viel Militär unterwegs und das schüchtert schon ein, aber wenn man gut auf sich aufpasst, dann geht es auch gut. Trotz rudimentärer Spanischkenntnisse.

Wir haben in Mexiko in Hütten geschlafen, in der manchmal nur eine Matratze und eine Kerze waren. Ein Mexikaner, der mich etwas an Rumpelstilzchen erinnert hat, hat uns mal zum Grillen abends zu sich nach Hause eingeladen. Der war voll nett und wir dachten, der würde eine Grillparty mit Freunden feiern wollen. Aber als wir dann bei ihm ankamen, saß er alleine am Lagerfeuer in seinem Garten. Der Garten bestand aus Palmen und der Holzhütte, in der er gehaust hat. Darin waren eine Hängematte, eine Gitarre, ein kleiner Holzschemel, ein Tischchen und zwei Hunde. Und das war´s. Das war erstmal ein bisschen komisch für uns. Wir sind dann Getränke holen gefahren, haben uns unwohl gefühlt, sind aber trotzdem wieder zurück und es war echt ein schöner Abend. Es kamen dann doch noch Leute und wir haben zwei deutsche Aussteiger kennengelernt und eine Kanadierin. Wir haben richtig nett gefeiert. Und der Typ war echt so Gold. Das hat mir gezeigt: Man muss echt manchmal ein bisschen mutiger sein. Mit Menschenkenntnis und Bauchgefühl ist es egal, wo du auf der Welt bist: Wenn du nett bist, wirst du auch nett empfangen. Und ich habe da den leckersten Fisch aller Zeiten gegessen, den er selbst gefangen hat. Als der Fisch fertig war, hat er im Garten ein paar Palmwedel abgehauen und uns den Fisch darauf serviert – er hatte ja keine Küche. Das sind so Sachen, die kannst du halt nirgendwo buchen. Das liebe ich sehr.

Seid ihr mit eurem Sohn schon verreist?

Ja, letztes Jahr waren wir bei Verwandtschaft meines Mannes in Italien und haben bei der Olivenernte geholfen. Fritz war im Tragetuch und ich hab Oliven vom Strauch gekämmt. Der Mann von Tims Tante ist Italiener. Den beiden hat früher das Dal Passatore an der Steeler Straße gehört. Nun sind sie komplett nach Italien gezogen und machen sich einen schönen Lebensabend.

Machst du Sport?

Nicht übertrieben viel. Ich laufe gerne um den Baldeneysee, um den Kopf frei zu kriegen. Den Marathon spare ich mir aber für die Midlife-Crisis auf.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann und warum?

Ich denke ich wäre Karla Kolumna – die rasende Reporterin aus den Bibi-Blocksberg- und Benjamin-Blümchen-Hörspielen. Karla Kolumna war auch früher mein Spitzname.

Das Interview führten wir im Dezember 2018.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.