Dan Brown aus Essen
„Ich bin einfach nur ein Mensch. Und darum geht es am Ende jeden Tages.“
Hallo Dan, stell dich bitte kurz vor.
Ich bin Dan Brown – Student und Musiker. Ich bin 27 Jahre alt und als Kind mit meiner Mutter aus dem Kongo nach Deutschland gekommen. Vorher sind wir von Asylantenheim zu Asylantenheim rumgetingelt.
Warum habt ihr den Kongo verlassen?
In den Neunzigern gab es einen Bürgerkrieg in meiner Heimat. Eines Tages hieß es dann plötzlich „ab Morgen sind wir hier weg“ – und ich wollte das gar nicht. Uns ging es da eigentlich megagut. Wir haben in Kinshasa gelebt. Das Problem war aber, dass meine Eltern zu viel verdient haben und deshalb verfolgt wurden. Wir mussten also fliehen. Mein Vater hat dann dafür gesorgt, dass meine Mutter und ich zuerst nach Europa fliehen konnten. Wir haben leider unseren Hund zurücklassen müssen.
Seid ihr direkt nach Deutschland gekommen?
Es war kein Problem, den Kongo zu verlassen und wir sind mit dem Flugzeug one-way nach Belgien geflogen. Danach haben wir in Holland gelebt und durften dann nach Deutschland weiterziehen. Dort haben wir zuerst in Köln auf einem Schiff direkt am Hauptbahnhof im Hafen gelebt. Ich fand es megaschön – wir hatten Mittagessen, Frühstück und haben in kleinen Zimmern gewohnt. Man hat sich wie ein König gefühlt, weil dort riesige Kronleuchter hingen.
In Belgien habe ich zum ersten Mal Schnee gesehen. Schnee kannte ich nicht mal aus dem Fernsehen, denn im Kongo haben Kinder nie ferngesehen, da spielte sich das Leben draußen ab. Das war für mich ein Naturphänomen und hat mich sehr beeindruckt – bis ich gemerkt habe, dass der Schnee echt kalt ist.
Über tausend Wege sind wir dann schließlich nach Essen-Burgaltendorf gekommen, dann nach Kupferdreh. Da haben wir schließlich unsere erste eigene Wohnung bekommen. Dann kam mein Vater nach und das Leben hier ging los.
Wie waren die ersten Jahre in Deutschland?
Ich kam in die Grundschule. Danach bin ich auf die Hauptschule gekommen und in der siebten Klasse bin ich dann auf das Unesco-Gymnasium gewechselt. Nach dem Abi habe ich vier Semester Elektrotechnik in Duisburg studiert, weil mein Vater Elektrotechniker ist, aber habe dann gemerkt, dass ich ein Freigeist bin und was anderes machen wollte. Mathe hat mich einfach genervt. Ich wollte was machen, worauf ich wirklich Bock habe.
In Krefeld auf einer Party habe ich durch Zufall einen Dozenten kennengelernt. Wir haben uns ausgetauscht. Da habe ich gemerkt, dass Kommunikationsdesign genau mein Ding ist und habe mit dem Studium in Krefeld an der Hochschule Niederrhein begonnen. Ich bin mittlerweile im siebten Semester. Ich hoffe, dass ich nach dem achten Semester fertig sein werde.
Hast du Hobbies?
Ich habe immer getanzt – da kommt man nicht drum herum als Kongolese! Man wird um sechs Uhr morgens wach und der Papa hört laut Musik – da wird auch keine Rücksicht genommen, ob andere noch schlafen.
Als Kind bin ich immer auf Parties mitgenommen worden. Ich habe relativ junge Eltern – meine Mutter war 21, als ich geboren wurde. Meine Cousins und ich durften immer mitkommen und wir haben oft Verstecken und Fangen gespielt. Musik und Tanz hat immer dazu gehört.
Wie wurde das Tanzen dann professioneller?
In der Pubertät, mit 15 oder 16, hatte ich Freunde, die im CVJM hier in Essen getanzt haben. Wir hatten dort einen Raum, wo wir laut Musik spielen und tanzen konnte. Darüber war ich sehr froh und lernte gewisse Szenen kennen, zum Beispiel eine Tanz-Battle-Szene, die zwar nicht sehr bekannt, dafür aber international war. Es gab richtige Weltmeisterschaften und Menschen aus Japan, Korea, Frankreich und England haben da mitgetanzt. Man hat sich in Düsseldorf getroffen und ausgetauscht.
Du bist Mitglied der Band Banda Senderos. Wie fing das an?
Die Band habe ich kennengelernt, als ich noch bei Botticelli Baby war – einer Essener Swingband. Wir haben uns mit den Senderos einen Proberaum geteilt, wo die einen über die anderen geschimpft haben, weil die jeweils anderen nicht aufgeräumt haben und so weiter. Ich habe Julian von den Senderos kennengelernt. Wir haben gequatscht und geraucht und er hat mich zu einer Session eingeladen. Da war ich sofort dabei! Ich habe mir das angehört und war total begeistert: Ich liebe Bossa Nova! Mit dem Bassisten bin ich dann noch nach Hause gegangen und der wohnte tatsächlich mit unserem Gitarristen zusammen – was ein Zufall! Als ich mir von den Banda Senderos dann eine CD angehört habe – und das war purer Bossa Nova – wurde ich immer begeisterter. Ich bin dann immer öfter zu Sessions gefahren und so kam es dann irgendwann, dass ich mit eingestiegen bin. Aus den Sessions wurden irgendwann Proben und so hat sich das entwickelt. Mittlerweile bin ich seit ungefähr vier Jahren dabei.
Hast du eine große Familie?
Ja, eine sehr große! Ich kenne 25 bis 30 echte Cousins und Cousinen. Das liegt daran, dass meine Mutter 13 Geschwister hat. Davon nur einen Bruder. Jede Zweite meiner Tanten hat fünf bis sechs Kinder.
Meine Eltern sind da eher untypisch für kongolesische Verhältnisse. Ich war lange Einzelkind, aber habe mir immer einen Bruder gewünscht, bis ich einen bekommen habe. Er ist sechs Jahre jünger als ich und wurde hier in Deutschland geboren.
Haben Mitglieder deiner Familie Schaden genommen von den früheren „Säuberungsaktionen“ im Kongo?
Nein. Gott sei Dank nicht. Mein Vater und Großvater waren in der Geschäftswelt ziemlich bekannt. Mein Vater hat das Geschäft meines Großvaters übernommen und dadurch stand die Familie auf einer Liste von Leuten, denen nicht geschadet werden durfte.
Als der Boxkampf „Rumble in the Jungle“ stattfand – Muhammad Ali gegen George Foreman – war mein Großvater zuständig für die Logistik und das Catering. Das ganze Essen war bei meiner Familie gelagert. Dadurch hat er viel verdient und war international tätig.
Als mein Großvater uns in hohem Alter hier in Deutschland besucht hat, hat er mir sehr viel über seine Vergangenheit erzählt. Unter anderem auch, dass er zu Nazi-Zeiten schon einmal in Deutschland war und hier Geschäfte gemacht hat. Ich war total erstaunt. Die Nazis hätten ihn doch sehen müssen. Er sagte „Rassismus ist fürs Volk – in der Geschäftswelt gibt es das nicht!“ Da geht es nur ums Geld. In gewissen Verdienstklassen ist es scheißegal, wie du aussiehst, wer du bist, woher du kommst. Nur Geld und Macht zählen.
Was möchtest du später mit deinem Studium anfangen?
Am liebsten würde ich Kommunikationsdesign mit der Musik verbinden. Es muss auf jeden Fall etwas sein, das ich kreiere – sei es eine Installation oder auf der Bühne oder die Neugestaltung eines Konzerterlebnis. Aber es ist noch nichts fest, das ist nur eine Wunschrichtung. Ich möchte mich auch noch nicht festlegen. Das ist mir zu starr. Dann habe ich das Gefühl „Das war’s!“
Ich mache viele Kurzfilme, Illustrationen und Animationen. Wenn ich merke, dass der Punkt gekommen ist, an dem ich eine Familie gründen möchte und eine feste, sichere Arbeitsstelle brauche, dann lande ich wahrscheinlich bei Porsche. Da habe ich im letzten Jahr ein Praktikum gemacht und immer noch guten Kontakt zum Betriebsratsvorsitzenden und stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden. Aber ich mag Stuttgart aber eigentlich nicht – die Leute sind mir viel zu spießig.
Würdest du dich als spirituell bezeichnen?
Ich bin ein sehr spiritueller Mensch. Ich bin katholisch getauft, aber dagegen habe ich mit 16 Jahren rebelliert. Ich habe Religion in der Schule auch immer hinterfragt – genauso wie den Geschichtsunterricht. Wenn von Afrika die Rede war, ging es immer nur um Sklaverei und Ägypten – aber da gibt es doch so viel mehr! Und in der Geschichte waren gute Zeiten nie ein Thema – immer ging es nur um Kriege, Diktatoren und das Schlechte.
Meinen damaligen Religionslehrer haben wir immer Jesus genannt. Er war Buddhist und mit ihm habe ich viel geredet. Er hat mich spirituell inspiriert und ermutigt, Antworten auf meine Fragen zu recherchieren. Ich habe mich viel mit dem Kongo und seiner Geschichte beschäftigt – eben mit meinen Wurzeln. Meine Familie hat eine strenge, nach innen gekehrte Religion. Meine Oma steht um drei Uhr nachts auf, fängt an zu beten und zündet überall Kerzen an, aber sie würde nie fragen „Du! Warum warst du am Sonntag nicht in der Kirche?“.
Ich wollte wissen, warum wir Christen sind, wie die Religion in meine Heimat kam. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr habe ich mich vom Christentum entfernt. Im Endeffekt kam das Christentum in meine Heimat und hat die damalige Kultur total zerstört. „Ihr müsst jetzt an Gott glauben und an Jesus Christus.“ Das hatte nichts mit uns zu tun, aber es wurde angenommen. Das eigene Land und die eigene Kultur wurden vergessen. Ich spreche Französisch, weil es damals eine Zeit gab, zu der man mit Erwachsenen nur französisch reden durfte – sonst war man ein Teufelskind.
Mein Vater hat mir Bücher aus der Zeit gezeigt. In denen stand, dass der Kongolese komplett seine Naturreligion vergessen, nur noch französisch sprechen, christliche Werte annehmen und den Papst anerkennen sollte.
Alles, was mit Statuen und Masken zu tun hatte, war Teufelswerk. Voodoo wurde verteufelt in der Literatur und in Filmen, dabei wird es komplett missverstanden. Bei uns heißt das Nganga, das ist bis heute unser Wort für Arzt.
Was denkst du zum Thema Voodoo?
Mein Onkel war immer der Verrückte in der Familie, weil er die Naturreligion immer noch praktiziert. Ich bin ganz dicke mit ihm. Es gibt schwarze und weiße Magie – das ist aber nichts anderes, als dass es das Gute wie auch das Böse gibt. Wir glauben an Waldgeister. Wenn man eine Hütte im Dschungel hat, dann ist es dort nachts stockdunkel – die Sterne sind die einzige Lichtquelle. Und die Geräusche aus dem Dschungel, die die Tiere machen, wurden in den Köpfen zu Waldgeistern, weil man eine Erklärung für sie brauchte.
In Belgien gibt es ein Kongomuseum. Dort gibt es einen ausgestopften Gorilla, der fast drei Meter groß ist und vermutlich der Ursprung von King Kong ist. Die Menschen damals haben geglaubt, das sei ein Dämon, der Kinder entführt. Der wurde von Belgiern im Kongo gejagt und erschossen und für das Museum nach Belgien verschifft und ausgestopft.
Im Grunde ging es in der Naturreligion darum, sich Dinge wie Blitze und Donner erklären zu können. Es geht mehr darum, was direkt vor einem passiert – im Wald, Dschungel oder zwischenmenschlich. Und nicht, was irgendwo ist und ein Königreich hat. Mit 16 habe ich gesagt „Mama, würde Gott jetzt hier antanzen und dich mir wegnehmen, dann würde ich ins Paradies gehen und dort alles niederbrennen und ihn töten.“ Meine Mutter ist dann erstmal den nächsten Sonntag in die Kirche gegangen und hat für mich gebetet. Ich wollte ihr damit nur klar machen, wie wichtig sie mir ist. Sie hat mich auf diese Welt gebracht. Und Familie ist das Wichtigste.
Religion wird viel zu viel als Machtinstrument benutzt. Sei es damals im Christentum oder heute im Islam. Das ist schade, weil Menschen so viel Potenzial für Gutes haben.
Voodoo ist für mich mehr eine Provokation – ich habe zu Hause viele Masken. Meine Cousins sind darüber schockiert und haben gefragt, ob das mein Ernst sei. Das ist mein Statement. Ich bin echter Kongolese, also habe ich Voodoo-Masken. Ich habe keine Angst vor Geistern. Das bin ich, das ist meine Identifikation. Wenn du Angst davor hast, dann hast du Angst vor mir.
Ich bin einfach nur ein Mensch. Und darum geht es am Ende jeden Tages.
Und was ist mit Voodoo-Puppen?
Das mit den Puppen wurde auch total verdreht. Früher hat der Nganga, der Arzt, Puppen von Menschen gemacht – quasi einen Avatar hergestellt. Die Nadeln wurden da reingesteckt, um den Schmerz von bestimmten Körperstellen zu nehmen. Also eigentlich zur Heilung.
Was gefällt dir am Ruhrgebiet?
Wir hatten in Europa hier in Essen unsere erste eigene Wohnung. Hier hat alles angefangen. Ich habe hier Freunde gefunden. Alles, was ich heute bin, habe ich dem Ruhrgebiet zu verdanken. Es hat einfach Charme.
Durch die Tanzbattles habe ich schnell gelernt, dass Deutschland unterschiedlich ist. Durch die Band habe ich gelernt, dass das Ruhrgebiet einzigartig ist. Es ist nicht Berlin, nicht Hamburg, nicht der Süden, Bayern. Dortmund oder Bochum fühlt sich nicht an wie eine andere Stadt. Sondern nur wie eine Haltestelle weiter.
Mit dem Gefühl war ich letztes Jahr in Stuttgart. Da ist es ganz anders. Wenn du in Stuttgart bist, bist du in Stuttgart. In die nächste Stadt – Ludwigsburg – zu kommen, ist kompliziert. Da bist du schneller gelaufen als mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Hier haben wir diese Nähe. Wir sind der Pott. Es gibt so viel Kultur und alles vermischt sich. Gerade auch in der Underground-Szene. Die ganze Welt ist irgendwie im Ruhrgebiet – es ist viel gemixter.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du und warum?
Ich wäre Spiderman. Ich bin in der Uni so getauft: Spiderdan – weil ich Menschen vernetze und auch immer unter Menschen bin. Die ganze Uni kennt mich. Ich war schon immer ein Typ, der mit fremden Leuten schnell Kontakt knüpft. Ich mag es, neue Menschen kennenzulernen. Ich kann nicht alleine sein. Und in der Uni ist das nicht anders. Ich mische in allen Gruppen ein bisschen mit und dadurch entstehen neue Kontakte – auch zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen. Es gab sogar mal einen Vortrag über Spiderdan. Wir sollten uns gegenseitig porträtieren. Ein Kollege hat mich ausgesucht, seitdem bin ich Spiderdan.
Das Interview führten wir im März 2018.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.