Beril Sun aus Essen

„Ich fühle mich irgendwie heimatlos.“

Hallo Beril, stell Dich bitte kurz vor.

Ich bin Beril Sun und 31 Jahre alt. Geboren bin ich in Istanbul. Für das Master-Studium der Violine bin ich vor ein paar Jahren nach Leipzig gekommen. Jetzt wohne ich in Essen und arbeite im Folkwang Kammerorchester.

Du spielst Violine? Wie lange schon?

Dafür, dass ich professionell spiele, habe ich ziemlich spät angefangen. Ich spiele seit 19 Jahren.

Du spielst aber noch in einer anderen Konstellation?

Ja, ich habe noch ein Quartett – das Beril Sun Quartett. Aber ich trete auch als Solo-Artistin auf.

Spielst du Klassik?

Ich bin eine klassische Geigerin, spiele aber auch bei Crossover-Projekten gerne mit.

Machst du das hauptberuflich?

Ja, ich bin festangestellt beim Folkwang Kammerorchester Essen. Zusätzlich unterrichte ich aber noch an der Musikschule am Aalto-Theater. Es macht mir Spass, anderen mein Instrument und die Musik näher zu bringen.

Hast du ein Vorbild?

Ich mag viele verschiedene Sachen und nutze Musik sehr gezielt. Geht es mir schlecht oder bin ich traurig, höre ich andere Musik oder andere Künstler als wenn ich glücklich bin.

Wie sieht dein Tagesablauf aus?

Violine zu spielen ist kein klassischer 9-to-5-Job. Die Proben sind zwar tagsüber, aber die Konzerte sind meist dann, wenn andere frei haben, also abends, am Wochenende und an Feiertagen.

Wie stellst du dir deine Zukunft vor?

Das ist eine gute Frage. Ich bin jetzt 31 und das Folkwang Kammerorchester hat eine Altersbegrenzung von 35 Jahren. Ich liebe das Geige spielen und würde meinen Beruf gerne noch so lange wie möglich ausüben.

Wie oft siehst du deine Familie in Istanbul denn?

Seit ich in Essen wohne und arbeite, leider nur einmal im Jahr. Für mehr reicht die Zeit nicht. Ich möchte eigentlich gern, dass meine Mutter hierher kommt, um mich zu besuchen, aber das ist ziemlich kompliziert. Es macht mich traurig, dass sich in der Türkei aktuell so viel verändert. Meine Heimatstadt Istanbul liebe ich aber nach wie vor. Es ist eine der schönsten Städte der Welt.


Was gefällt dir hier am Ruhrgebiet? Warum wohnst du in Essen und nicht woanders?

Ich bin aufgrund eines Engagements bei den Philharmonikern nach Essen gekommen und geblieben, weil ich hier meinen Freund kennengelernt habe. Es war Schicksal. Generell gibt es im Ruhrgebiet gute Jobmöglichkeiten, weil hier viele Städte direkt nebeneinander liegen und das Kulturangebot enorm ist.

Die Architektur hier kann man mit der in Leipzig, wo ich vorher gewohnt habe, nicht unbedingt vergleichen. Aber man kann in jeder Stadt schönen Ecken finden.

Meine Erfahrungen in Leipzig zu wohnen (bis zum Jahr 2012) waren durchweg positiv. Es gab nicht viele Ausländer dort und fast alle waren Studenten. Die Leute waren uns gegenüber meist sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. Hier im Ruhrgebiet, in dem schon immer viele Menschen mit Migrationshintergrund gelebt haben, ist es nichts Besonderes mehr, wenn man Ausländer ist, insbesondere wenn man türkische Wurzeln hat.

Als eine Türkin mit dunkelblonden Haaren und blauen Augen habe ich hier sowohl Vorteile als auch Nachteile. Die Menschen sind zuerst nett zu mir. Dann wollen sie wissen, woher ich komme. Wenn sie dann erfahren, dass ich Türkin bin, sind sie oft enttäuscht und ich bin plötzlich uninteressant für sie.

Meinst du, das ist nur ein Nachteil hier im Ruhrgebiet oder generell in Deutschland?

Im Osten, also in Leipzig, hatte ich diese Probleme nicht. Allerdings war das auch meine Studienzeit. An der Musikhochschule gab es sehr viele Menschen aus verschiedenen Ländern und es war ganz normal, ein Ausländer zu sein, und nicht perfekt Deutsch zu sprechen.

Wenn ich hier sage, dass ich Türkin bin, denken die Leute sofort, dass ich hier geboren bin und schlecht Deutsch spreche. Dann ist das Gespräch häufig direkt beendet. Ich habe auch türkisch-stämmige Freunde in Deutschland, aber die Freundschaft ist oftmals anders, als sie es mit Freunden aus der Türkei wäre. Ich bin irgendwie heimatlos. Für die Deutschen bin ich eine Türkin, und gegenüber den in Deutschland geborenen Türken fühle ich mich auch fremd, obwohl wir dieselbe Sprache sprechen.

Wenn du eine Comic-Figur wärst, wer wärst du?

Tom & Jerry und Roadrunner & Coyote mag ich sehr. Ich liebe schwarzen Humor und mag Ironie. Vielleicht, weil meine Generation das Pech hat, mit diesem politischen Desaster aufzuwachsen. Die Menschen, die ich mag, die sind auch lustig, aber nicht albern – sie haben einen intelligenten Witz.

Das Interview führten wir im Februar 2017.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.