Andy Brings, 53, Mülheim an der Ruhr

„Ich habe ein Jahr im Loch, und zwar ganz unten, gelegen.“

Hallo Andy. Schön, dass du da bist. Erzähl mal ein paar Sätze über dich.

Hallo, ich bin Andy Brings. Wenn ich eine Berufszeichnung für mich wählen müsste, dann wäre es Musiker. Das mache ich am längsten. Ich produziere aber auch Musik, Podcasts, ich mache Filme und Videos. Ich bin 53 und wohne in Mülheim an der Ruhr – seit meiner Geburt im selben Haus.

Wohnst du alleine?

Mit meiner Freundin. Meine Mutter wohnt auch noch in dem Haus. Ich finde das total schön. Sie hat sich immer um mich gekümmert und jetzt kann ich mich um sie kümmern. Aber sie ist mit ihren 80 Jahren noch sehr fit.

Du bist Musiker. Woher kennt man dich?

Bekannt geworden bin ich durch Sodom – berüchtigt auch.

Was ist das für eine Band? Welche Musikrichtung spielt Sodom?

Eine Profi-Heavy-Metal-Band.

Wie bist du damals in die Band gekommen? Du warst noch sehr jung …

Ich konnte mir damals als Schüler nichts anderes vorstellen, als Musik zu machen. Ich hatte keinen Plan B nach dem Abitur. In der Schule habe ich einige Ehrenrunden gedreht und kurz vor dem Halbjahreswechsel konnte ich damals mit 20 Jahren bei Sodom einsteigen. Denen war der Gitarrist abgeraucht und ich durfte vorspielen. Das war quasi wie eine Rettung, weil ich sonst nicht gewusst hätte, was ich beruflich machen sollte. Ich bin dem Universum unendlich dankbar, dass es mir eine Eintrittskarte in die erste Bundesliga zum Halbjahreszeugnis dazugelegt hat.

Und dann war ich im selben Jahr, in dem ich Abitur gemacht habe, auf Europatournee, Japan-Tournee und habe ein Album in den Charts gehabt. Tagsüber eine Fotosession für den Metal Hammer und am Abend dann Abiball – also Dreams come true. Können dann aber auch schnell mal Nightmares werden …

Warum Nightmares?

Damals war es selten, dass so ein No-Name-Künstler, so ein Nobody wie ich, in eine weltweit operierende, berühmte Band einsteigt. Und wenn ich so auf meine eigene Geschichte gucke, war ich wirklich sehr naiv. Mein Herz war rein und eigentlich ist es das immer noch. Ich bin immer noch so ein Überzeugungstäter und ich habe mir auch sehr viel Naivität trotz aller Professionalität bewahrt. Denn ich habe immer knallhart auf die Flamme, die in mir brennt, gehört.

Meine Mutter hat damals beim Rechtsanwalt gearbeitet und mit ihr bin ich alle Verträge durchgegangen – Verlag, noch ein Verlag, Plattenfirma, Management, Merchandising … und so weiter. Wir saßen im Wohnzimmer und haben beide kein Wort von dem verstanden, was da stand. Ich wollte aber nicht vor den anderen Bandmitgliedern als kompliziert wirken und habe einfach alles blind unterschrieben. Ich wollte dabei sein. Diese Verträge hätte man eigentlich alle komplett einmal in rote Farbe tunken und wieder zurückschicken müssen, aber egal.

Und um zu den Nightmares zurückzukommen: Dann war irgendwann Schluss und ich wurde aus der Band geschmissen.

Warum das? Was ist passiert?

Das war genau vor 30 Jahren, 1994. Der Bandgründer Tom Angelripper, das einzige damals verbliebene Gründungsmitglied, hatte auf einmal die Idee, dass er die Band allein weiterführen wollte. Er wollte sich den Namen sichern und allein Geld verdienen. Und da war ich einfach ein Bauernopfer und musste nach knapp drei Jahren gehen. Dieser Rauswurf hat mich wirklich traumatisiert und in mir eine ungesunde Arbeitswut und Umtriebigkeit freigesetzt.

Also hast du dich in Arbeit gestürzt?

Ja. Ich habe nie Drogen genommen und nie gesoffen, meine Droge war immer die Arbeit. Nach dem Rauswurf habe ich mich dann bis zur Erschöpfung aufgerieben, um wieder dahin zu kommen und beruflich an dem Erfolg anzuknüpfen. Ich wollte allen zeigen, dass man sowas nicht mit mir machen kann. Mich schmeißt keiner raus. Dadurch hatte ich aber auch die Chance, mir ein komplett neues Leben aufzubauen – eine eigene Karriere zu erschaffen, auf die ich total stolz bin. Ich habe mein komplett eigenes Ding gemacht und bin heutzutage eben nicht mehr nur ehemaliger Sodom-Gitarrist.

Und jetzt nach genau 30 Jahren muss ich sagen, es hat auch die ganzen 30 Jahre lang gedauert, mich von diesem Trauma komplett zu lösen. Das wird immer noch mal so nachhallen, aber es hat keine Kraft mehr. Ich bin jetzt damit im Reinen.

Hast du dich mit Tom Angelripper ausgesprochen?

Mit Tom ist längst wieder alles gut. Wir sind auch immer noch geschäftlich miteinander verbunden – auch freundschaftlich. Wir haben seitdem schon wieder einige Male zusammengearbeitet.

Was hast du nach dem Rauswurf bei Sodom gemacht?

Also erstmal habe ich ein Jahr im Loch, und zwar ganz unten, gelegen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Aber dann habe ich gedacht, das kann so nicht weiter gehen und habe mich aufgerappelt. Ich war da 23 Jahre alt. Dann bin ich losgegangen und habe mir Recording- Equipment gekauft. Aus heutiger Sicht vorsintflutlich – noch mit Kassetten. Ich habe dann angefangen, eigene Songs zu machen und daraus wurden immer mehr. Mir wurde schnell klar, dass ich singen wollte. Bei Sodom war ich ja nur Gitarrist, aber ich wollte mehr. Dann habe ich meine erste Band gegründet: The Traceelords. Ich war der Frontmann. Wir haben ein paar Platten gemacht und waren u.a. mit Whitesnake, Ted Nugent und Alice Cooper auf Tour.

Was für Musik habt ihr gespielt?

Die Musik war ein bisschen anders. Sodom ist ja sehr hart und sehr gröhlig, aber so kann ich gar nicht singen. Es war eher die Punk-Rock-n-Roll-Richtung – ein bisschen wie die Ramones. Und es ging immer weiter. Also kann ich sagen, dass ich mich aus dem Loch damals selbst an den Haaren aus der Scheiße gezogen habe.

Ich habe auf meine innere Flamme gehört und an sie geglaubt. Aber das allein reicht nicht. Man muss auch einfach machen. Es gibt keinen Umweg um die Arbeit.

Wer hat dich musikalisch inspiriert?

Die Band KISS hat mich musikalisch sehr auf die Spur gesetzt, aber auch, was die ganze Haltung angeht. Nur Arbeit und keine Drogen – also Paul und Gene auf jeden Fall. KISS ist eine Philosophie und da kann man sich wirklich viel von abgucken, auch wenn man nicht auf die Band steht.

Und in welcher Band spielst du aktuell?

In zwei Bands: Double Crush Syndrome, eine englischsprachige Punk-Rock-Band. Die gibt es jetzt auch schon 10 Jahre. Wir haben schon viele Platten gemacht und waren zum Beispiel mit Doro und Skid Row – meinen Helden – auf Tour. Und dann meine Solo-Band: Andy Brings & Band. Wir machen deutschsprachige Musik. Etwas weniger Punk-Rock, dafür etwas mehr Power-Pop. Kommt alles aus demselben Stall. Hört man auch. Ich habe so eine Handschrift, die man immer raushört. Aber die Vorzeichen ändern sich. Und ich bin nach wie vor aktiv. Allerdings nicht mehr so viel auf Tour wie noch vor 5 bis 6 Jahren.

Warum nicht?

Kurz vor Corona, Ende 2019, habe ich einen hammermäßigen Burnout gekriegt. Nach 25 Jahren harter Arbeit, viel Schlafmangel, schlechter Ernährung und viel zu viel Koffein habe ich dann wirklich die Quittung gekriegt. Vier Monate lang ging gar nichts. Und dann war ja Corona. Da war ich gezwungen, mal runterzukommen. Und nicht ständig von A nach B zu fahren.

Ich dachte immer, ich existiere gar nicht, wenn ich das nicht mache. Stimmt aber nicht. Ich existiere sehr wohl. Und auch sehr gut. Und auch sehr glücklich. Ich kann auch viele Sachen hinter den Kulissen machen. Und das macht auch Spaß. Ich kann ja nichts machen, was mir keinen Spaß macht. Es ist mir nicht möglich. Ich bin auch nicht käuflich. Ich bin bezahlbar, aber nicht käuflich.

Ich kann jetzt eine Woche auf Tour gehen. Und wenn das vorbei ist, wäre ich früher in ein Loch gefallen. Und heute komme ich nach Hause und freue mich auf das, was ich dann mache. Und ob ich jetzt was für andere produziere oder ein Soundlogo, einfach so Sounddesign mache oder Songs schreibe. All das füllt mich aus und erfüllt mich. Hätte ich früher nicht gedacht.

Kannst du von der Musik leben?

Ja, ich konnte immer davon leben. Ich bin weder reich noch der berühmteste von allen. Aber ich habe es geschafft, jetzt im 32. Berufsjahr – getreu dem Motto „Avoiding the Day Job“ – immer noch das zu machen, was mir Spaß macht und was mich erfüllt. Und all das, was ich unter dem Dach der Musik mache, ernährt mich.

Vor einiger Zeit bist du im ZDF-Fernsehgarten aufgetreten. Hattest du keine Angst, dass du mit so einem Auftritt in der Metal-Szene nicht mehr ernst genommen wirst? Oder ist dir das egal?

Nee, nee, ich habe keine Angst. Also das blende ich aus, das hinterfrage ich gar nicht. Ich hinterfrage nur mich, will ich das? Und wenn die Antwort ja ist, dann all in.

Wusste ich, dass der Fernsehgarten-Auftritt polarisieren wird? Ja, klar. Habe ich das eingepreist? Vielleicht sogar ein kleines bisschen kalkuliert? Bestimmt. Aber ich wollte das. Ich habe den Song ausgesucht, den wir da gespielt haben: eine punkige Coverversion von „Die berühmten drei Worte“ von Andy Borg. Wenn ich schon in den Fernsehgarten eingeladen werde, dann gehe ich nicht dahin und benehme mich da, wie die Heavy Metal CSU das vielleicht von mir erwartet. Ich habe das als große Ehre empfunden, in so eine altgediente ZDF-Show eingeladen zu werden. Die haben sich unheimlich über uns gefreut. Jeden Wunsch von Augen abgelesen. Ich habe gesagt, können wir Flammen haben? Na klar. Haben wir Flammen gekriegt.

Warum soll ich mich da benehmen wie die Axt im Walde? Und vielleicht hat die Metal-Community erwartet, dass der Andy jetzt mal den Normalos zeigt, was eine Punkrock-Harke ist. Wie auch immer die aussieht. In die Kamera rotzen oder Stinkefinger zeigen. Aber das finde ich peinlich und ich lasse mich auch nicht instrumentalisieren. Wir waren ja in derselben Sendung, in der Luke Mockridge sich so danebenbenommen hat. Und der hat quasi genau das gemacht, was man von uns erwartet hätte. Sich benommen wie ein Arsch, das Publikum beleidigt und sich unehrenhaft verhalten.

Und er hat etwas gemacht, was ich total verachte. Er hat nach unten getreten. Also wenn, dann tritt man nach oben. Und in so einem Format sowieso nicht. Warum soll man sich im Fernsehgarten oder über das Fernsehgartenpublikum lustig machen? Die gehen dahin, weil sie Spaß haben wollen. Sie freuen sich, wenn die Andrea Kiewel, Jürgen Drews ankündigt und dann Haushaltstipps am Pool gibt und was auch immer. Die Show ist nicht für Altpunks gemacht. Sie hat ihr eigenes Publikum. Also gehe ich doch dahin und benehme mich, freue mich und bin höflich.

Neben der Musik hast du auch noch einen Film gedreht?

Ja. „Full Circle, Last Exit Rock’n’Roll“ ist ein Kinofilm, den ich mit einem ganz kleinen Team 2018 innerhalb eines Jahres realisiert habe. Er soll zeigen, wie Überzeugungstäter ticken und was getriebene Menschen antreibt und, ob es da eine Schnittmenge gibt.

Zu dem Zeitpunkt sollte meine Band, Double Crush Syndrome, mit Skid Row auf Tour gehen. Und ich habe drei Bands, die in meinem Leben richtig gecrashed haben: Kiss, Ramones und Skid Row. Das letzte Mal 1989 beim Konzert in der Grugahalle. Damals war ich 17 und da wusste ich, okay, alles klar, das ist mein Weg. Jetzt hält mich niemand mehr auf, in diese Richtung gehe ich jetzt.

Und dann gehen wir mit dieser Band auf Tour! Und dann habe ich gedacht, okay, das ist die Geschichte für einen Film. Diese Geschichte will ich erzählen: vom 17-jährigen Fanboy, der Skid Row zuerst in der Grugahalle gesehen hat, bis zur gemeinsamen Tour viele Jahre später. Der Andy aus dem Dichterviertel in Mülheim, der ohne elterliche oder großbrüderliche Vorprägung einfach nur dem Ruf des Rock’n’Roll gefolgt ist. Die Niederlage mit Sodom und alles, was ich danach geschafft habe.

Also geht es hauptsächlich um deine Lebensgeschichte?

Ja, aber ich wollte jetzt nicht einfach nur meine Geschichte erzählen, weil ich dafür nicht berühmt genug bin. Ich wollte nicht erzählen, was ich gemacht habe, sondern wie und warum. Und ich wollte auch nur der rote Faden sein und dann anhand von Freunden und Weggefährten, wie Doro Pesch, Liz Bafo oder auch Leuten, die ich inspiriert habe – also Fans von mir, die Geschichte erzählen. Beispielsweise von einem Autokonstrukteur, der wahnsinnig teure exklusive Sportwagen für Porsche und Scheichs in Dubai baut, der durch meinen Arbeitsethos und durch mich angetrieben wurde, sein Ziel zu verfolgen. Und heute sehr erfolgreich ist. Diese Geschichten wollte ich erzählen und versuchen, Schnittmengen herauszuarbeiten. Ob es irgendwas gibt, was uns eint, die Überzeugungstäter. Und ich wollte parallel das Trauma mit Tom Angelripper aufarbeiten.

Wie wolltest du das machen?

Wir haben mit einem Psychologen gedreht und gearbeitet. Also wir haben einen Film gemacht, den ich als 18-Jähriger gut hätte gebrauchen können. Der Film soll Mut machen, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur will. Und es egal ist, was andere dazu sagen.

Kann man den Film streamen?

Der läuft noch auf Amazon Prime und bei Apple. Damals lief er bundesweit in den Kinos. Die Premiere hatten wir in der Lichtburg in Essen. Das war der absolute Wahnsinn.

Es macht mich glücklich, wenn mir immer noch Leute schreiben und sagen, dass dieser Film ihnen geholfen hat. Ich war auch in Schulen, in denen der Film gezeigt wurde und habe mit Schülern gesprochen. Viele sagten mir, dass der Film ihnen wirklich nützliche und wichtige Impulse gegeben hat. Das macht mich stolz.

Ich habe den Film damals mit meinem Hund im Autokino gesehen. Das war zu Corona-Zeiten …

Ja genau! Wir waren damals im Autokino in Mülheim am Flughafen. Direkt im Anschluss an den Film haben wir noch ein Konzert gespielt. Zum Ende des Films kamen wir mit dem Flugzeug, in dem wir auch im Film fliegen, auf den Flughafen reingefahren, sind rausgesprungen und haben dann das Konzert gespielt.

Und damit nicht genug: Du wolltest auch Oberbürgermeister für deine Heimatstadt Mülheim an der Ruhr werden! Wie ist es dazu gekommen?

Es gibt so ein paar richtig geile Ideen, die nicht von mir sind. Und das ist eine davon. Das war zur Kommunalwahl 2020, ich steckte noch gerade in den Ausläufern meines Burnouts, war vier Monate raus, oft in Spanien und habe gar nichts gemacht – konnte einfach nicht. Und dann komme ich im Februar oder März 2020 zurück, habe zum ersten Mal wieder seit Monaten was auf Social Media gepostet, und da schreibt mich ein Kollege an, den ich als WAZ-Journalisten in Essen kenne – Gordon Strahl.

Ich wusste aber nicht, dass er auch Pressesprecher von Die Partei in Mülheim ist. Da schreibt er mir, ob ich mir vorstellen könnte, für Die Partei in Mülheim als Oberbürgermeisterkandidat bei der Kommunalwahl anzutreten. Da habe ich gedacht, willst du mich verarschen? Soll das ein Witz sein? Nee, die fanden mich super. Die fanden den Auftritt beim Fernsehgarten sensationell und hatten voll Bock auf mich. Die Partei ist natürlich eine Satire-Partei. Und selbst wenn es alles nix wird, meinte er, kriegen sie zumindest mal geile Poster.

Also haben wir uns in den letzten Tagen vor Corona getroffen, als es noch ging. Ich habe gesagt, ich muss das gut überdenken. Weil Mülheim ist ja nicht so eine Riesenstadt, da kriegt es jeder mit. Und ich kenne da sowieso jeden. Ich wollte das mit meiner Freundin und mit meiner Mutter besprechen, weil das alle betroffen hätte. Wenn ich sowas mache, dann mache ich das richtig. Ja, und ich habe es dann auch wirklich gemacht. Ich war ein halbes Jahr Vollzeit OB-Kandidat. Trotz Corona habe ich in der Zeit den vollsten Terminkalender meines Lebens gehabt. Und wirklich Straßenwahlkampf gemacht.

Wie war der Wahlkampf? Was habt ihr alles gemacht?

Also ich habe das wie einen ernsthaften Wahlkampf betrieben. Wenn ich was mache, dann mache ich es richtig. Auch relativ autonom. Also die Partei hat natürlich ihre klassischen Satire-Themen wie Bierbrunnen in der Stadt und so, aber ich dachte, wir können davon ausgehen, dass ich nicht Oberbürgermeister werde. Trotzdem wohne ich danach dann immer noch in Mülheim und will mich nicht zum Affen machen. „Guck mal da, der Idiot mit dem Bierbrunnen.“ – das sollte nicht alles sein, an was die Leute danach denken. Also habe ich mein Programm auch selbst geschrieben und einen ernsthaften Wahlkampf betrieben. Jeden Samstag war ich in einer Fußgängerzone. Ich habe meine Heimatstadt neu kennengelernt. Und es war klar, ich werde sehr wahrscheinlich nicht Oberbürgermeister. Mülheim ist eine relativ alte Stadt und sehr konservativ.

Aber der AfD das Leben so schwer wie möglich zu machen, das war das Ziel. Und ich bin dann von zehn Kandidaten, was wirklich sehr viele waren, Sechster geworden. Mit zwölf Stimmen vor dem AfD-Kandidaten. Und das war wichtig! Das macht mich jetzt mindestens für fünf Jahre hier unsterblich.

Was hättest du gemacht, wenn du die Wahl gewonnen hättest?

Ich hätte es gemacht, natürlich. Also es war mir auch klar, es besteht ja zumindest die theoretische Chance, dass das Universum es so vorgesehen hat, dass ich Oberbürgermeister würde. Und wegen Corona wusste ich ja auch nicht, ob ich musikalisch überhaupt noch mal zurückkommen könnte. Und ob ich überhaupt noch die Kraft dafür hätte. Ich war wirklich körperlich am Ende.

Meine Mutter hat mich am Wahlabend, als ich es dann nicht wurde, in den Arm genommen und gesagt: „Ich bin froh. Das wäre nichts für dich. Zu eng, zu viele Regeln, ein zu enges Korsett.“ Die kennt mich natürlich sehr gut. Aber ich hätte mich da reingefunden.

Was magst du am Ruhrgebiet oder was magst du nicht am Ruhrgebiet?

Am Ruhrgebiet mag ich das Zentrale. Man ist in Deutschland schnell überall.

Dass die Städte so unterschiedlich sind, finde ich gut. Also im Grunde sind wir ja wie Berlin, nur viele verschiedene Städte. In Mülheim ist es immer noch so ein bisschen dörflich, gefühlt kennt jeder jeden. Das kann auch manchmal nerven, aber im Grunde mag ich den Menschenschlag und vor allem den Zungenschlag hier. Was mich aber dann gleichzeitig auch wieder unheimlich am Ruhrgebiet nervt, ist diese Ruhrgebietsverklärung und diese inflationäre Ruhrpott-Romantik: Ruhrpott-T-Shirt, Ruhrpott-Tattoo, die Grubenlampe – da krieg ich zu viel.

Die Wälder hier sind toll. Ich war mal mit einer Bayerin verheiratet und als ihre Familie zu Besuch war, waren wir in den Ruhrauen spazieren. Die konnten nicht glauben, wie grün es hier ist. Die haben wirklich noch gedacht, hier sähe es aus wie in den ersten fünf Schimanski-Folgen. Sie waren wirklich baff und ergriffen und fassungslos und es ist ja auch schön, aber woanders ist es auch schön. Und das darf man nicht vergessen. Also, ich komme gerne nach Hause, aber ich fahre auch gerne mal weg.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann und warum?

Als Kind fand ich Kimba den weißen Löwen immer super. Den habe ich als kleine Figur immer noch am Rückspiegel im Auto hängen. Vielleicht aber auch Robin Hood. Aber den von Disney! Robin Hood wird für mich immer ein Fuchs sein. Ich habe einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Kimba und Robin haben sich für die Schwachen eingesetzt. Ich bin auch so ein Underdog-Fan, weil ich selbst immer Underdog war und mein Herz dafür schlägt.

Das Interview führten wir im April 2024.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.