Venuja Rajakulendran aus Essen
„Als ich fünf war, musste ich mit meiner Familie aus Sri Lanka fliehen.“
Hallo Venuja, stelle dich doch bitte kurz vor.
Ich bin Venuja und komme aus Batticaloa. Das liegt in Sri Lanka.
Warum bist du damals nach Deutschland gekommen?
Damals war der Bürgerkrieg in Sri Lanka sehr schlimm. 1991 wurde mein Vater durch die indische Armee gefangen genommen und gefoltert. Meine Mutter hat ihn zum Glück mit der Hilfe von Bekannten rausgeholt. Danach ist er nach Deutschland geflüchtet. Der Halbbruder von meinem Vater war vorher schon nach Deutschland gezogen, so konnte mein Vater nachkommen. 1994 sind wir – meine Mutter, meine Schwester und ich – dann auch nachgezogen.
Wie hat deine Mutter es geschafft, deinen Vater aus der Gefangenschaft zu befreien?
Mein Opa – der Vater meiner Mutter – ist Lehrer an einer weiterführenden Schule gewesen. Der Direktor an dieser Schule war nicht aus Sri Lanka, sondern kam ursprünglich aus Indien und der kannte den Kommandeur der indischen Armee sehr gut. Mein Opa war handwerklich sehr begabt und kannte dadurch auch eine Menge Leute. Der Direktor der Schule hat dann für meinen Vater ein gutes Wort eingelegt. Es war wohl sehr schwierig, aber er ist freigekommen und konnte nach Deutschland fliehen.
Warum seid ihr erst drei Jahre später nach Deutschland gekommen?
Er musste ja erst mal hier ein Visum beantragen, so dass er dann auch hier arbeiten durfte. In dieser Zeit waren wir alleine in Sri Lanka.
Wie erging es euch da ohne euren Vater?
Es war schwierig. Meine Mama hat ihre drei Geschwister großgezogen. Sie ist die älteste und als sie 20 war, ist ihre Mutter – also meine Oma – verstorben. Zehn Monate später auch ihr Vater. Im gleichem Jahr – 1985 – wurden auch ihre beiden Häuser durch Bomben zerstört. Dadurch haben sie alles außer ihrem Leben verloren. Ihre Geschwister waren damals 16, 14 und neun Jahre alt. Sie hat dann die drei, meine ältere Schwester und mich gleichzeitig großgezogen. Wir sind in Sri Lanka alle zusammengezogen und meine Mama ist auch noch arbeiten gegangen, um uns zu ernähren.
Sie war Typistin bei der National Paper Company Limited in Valachennai. Die Papierfabrik wurde damals von der deutschen Firma Siemens erbaut.
Wie alt warst du als du nach Deutschland gezogen bist?
Als wir nach Deutschland kamen, war ich fünf Jahre alt und kam in den Kindergarten und meine ältere Schwester direkt in die erste Klasse der Grundschule in Essen-Freisenbruch.
Hast du Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland erfahren?
Ich habe bisher noch nie Probleme gehabt. Nicht im Kindergarten, nicht in der Schule und auch sonst nicht. Es waren alle gut zu mir.
Du hast vor Kurzem geheiratet?
Ja. Mein Ehemann ist auch aus Sri Lanka. Er ist der Bruder von meinem Schwager. Sein Vater hat damals bei der gleichen Firma gearbeitet, bei der meine Mutter angestellt war, und daher kennen sie sich. Damals wurde meine Schwester ihrem jetzigen Mann versprochen. Das ist in Sri Lanka so. Aber das war auch nicht schlimm. Als wir 2002 in Sri Lanka im Urlaub waren und sie besucht haben, wurden meine Eltern von seinen Eltern gefragt, ob wir meine Schwester ihrem Sohn zu Frau geben. Alle waren einverstanden.
Wo habt ihr geheiratet?
Wir haben im Tempel in Hamm geheiratet. In Essen gibt es auch einen kleinen Tempel in der Nähe der FOM. Dienstags und freitags ist da immer Messe. Im Sommer ist in Hamm immer ein riesiges Fest zu dem viele Tamilen aus ganz Europa kommen.
Wurden deine Eltern auch damals einander versprochen?
Nein. Papa war katholisch und Mama ist Hindu. Das war früher sehr kritisch. Sie durften sich nicht treffen und es war ein großes Problem, als sie sich damals verliebt haben. Mein Vater ist leider vor zwei Jahren verstorben.
Was gefällt dir am Ruhrgebiet oder was gefällt dir nicht?
In Essen lebe ich sehr gerne, aber mir fehlt hier das Grüne. In Sri Lanka haben wir sehr viel mehr Natur als hier im Ruhrgebiet. Die Kultur ist auch komplett anders. Hier ist alles sehr locker, aber in Sri Lanka läuft das eher strenger ab.
Inwiefern strenger?
Zum Beispiel kannst du als Frau dort nicht einfach abends weggehen. Das würden die Männer nicht zulassen. Es gibt Frauen, die heutzutage berufstätig sind und abends erst nach Hause kommen, aber wenn es um 17/18 Uhr dunkel wird, sieht man einfach nicht mehr viele Frauen auf den Straßen. Wenn zum Beispiel Essen in Restaurants geholt wird, machen die Männer das. Man geht als Frau auch nicht, wie hier, um 20/21 Uhr essen – nur die Männer machen das. Die Frauen haben weniger zu sagen. Früher durften sie auch nicht arbeiten gehen. Das hat sich schon geändert.
Würdest du wieder nach Sri Lanka ziehen?
Komplett da zu leben, wäre nicht mein Ding. Urlaub da zu machen, ist ok, aber ich fühle mich hier eher zuhause als in Sri Lanka. Als ich nach Deutschland kam, war ich ja noch sehr jung.
Was ist dein Hobby?
Ich habe sehr lange getanzt. Ungefähr bis ich 20 oder 21 Jahre alt war. Das war eine coole Zeit damals. Wir waren viel unterwegs und hatten Auftritte – komplett in Kostümen. Dazu malt man sich auch die Fingerspitzen und die Füße rot an. Das macht man, damit man auch von Weitem die roten Finger und Füße sieht und den Bewegungen besser folgen kann.
Ich spiele auch Badminton und habe früher an Turnieren teilgenommen. Da habe ich auch einige Pokale.
Gibt es etwas, was du an deinem Leben ändern wollen würdest?
Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ganz alleine auf diesem Planeten und niemand wäre um mich. Ich habe in meinem Leben immer viel zu tun gehabt und auch viel Verantwortung. Meine Schwester ist schon früh ausgezogen und hat ihren Mann mit 18 geheiratet. Ab da kam alles auf mich zu. Ich habe eine Ausbildung gemacht, gearbeitet und musste mich eigentlich um meine Sachen kümmern. Dazu kamen aber dann noch Sachen von meinem Mann und meiner Mama. Ich mache für meine Geschwister die Buchhaltung, Briefe für den Laden und ich gehe mit ihr einkaufen. Das ist einfach oft zu viel. Manchmal würde ich einfach gerne abschalten. Ich habe früher auch Nachhilfe in Deutsch gegeben, ohne etwas dafür zu verlangen.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?
Sailor Moon! Ich bin jemand, der gerne und viel hilft. Ich gebe, auch wenn ich nicht viel habe, gerne ab. Sailor Moon war immer toll. Sie hat die Welt gerettet.
Das Interview führten wir im März 2017.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.