Till Beckmann aus Bochum
„Im Ruhrgebiet kannst du schnell etwas auf die Beine stellen.“
Hallo Till, bitte stell dich kurz vor.
Ich bin Till Beckmann, ein Kind des Ruhrgebiets. Ich bin in Recklinghausen-Süd geboren, in Sichtweite zum Rhein-Herne-Kanal. Wenn ich jemandem erkläre, wie ich mein Geld verdiene, sage ich: Ich versuche möglichst viele von meinen Ideen zu realisieren, sei es auf der Bühne, hinter der Bühne oder am Schreibtisch. Ich arbeite als Schauspieler, Regisseur, Autor, Moderator und Veranstalter.
Wo arbeitest du?
Auf der Bühne vom Bodensee bis Gütersloh. Am Laptop von überall aus. Aber am meisten im Ruhrgebiet. Ich habe vier Geschwister, drei davon sind auch Schauspieler. Mit meinem Bruder Nils habe ich viele Jahre erfolgreich Theater gemacht. Zum Beispiel „Tschick“ nach Wolfgang Herrndorf. Das haben wir landauf und landab für junges Publikum gespielt. Das war cool: Wenn du vor 200 Menschen stehst, die 16, 17 Jahre alt sind und aus unterschiedlichen Nationen kommen – da gehst du mit zitternden Knien auf die Bühne, im Kopf die Frage: Wie schaffe ich das jetzt, dass die Bock auf Theater kriegen? Wenn du dich dann so richtig ins Zeug legst und es klappt, ist das das beste Gefühl überhaupt. Das ist wie ein Rausch. Und im Vergleich zum Bildungsbürgerpublikum mit Theaterabo sehr erfrischend!
Du bist auch Teil eines Ensembles …
… zusammen mit meinen Geschwistern. Unter dem Namen SPIELKINDER machen wir alles, was uns so einfällt – auch mit befreundeten Künstlern. Da steht dann zum Beispiel auf den Plakaten: Ein wilder Mix aus Quatsch, Spiel, Musik und Lesung. In den vergangenen Jahren habe ich ein Theaterstück und Drehbücher geschrieben – gemeinsam mit meinem Bruder Nils, zum Beispiel für den Kinofilm „Junges Licht“, bei dem Adolf Winkelmann Regie geführt hat.
Wie hast du das Theater für dich entdeckt?
Schon zu Schulzeiten. Ich bin 14 Jahre zur Schule gegangen, weil in das Schulkonzept eine staatlich anerkannte Ausbildung integriert war. Bei mir war es eine Ausbildung zum Erzieher, abgeschlossen habe ich die Schule mit dem Abitur. Nebenher habe ich immer wahnsinnig viel gelesen, mir Figuren überlegt und in Jugendclubs Theater gespielt. In den Flottmannhallen in Herne sagte der Theaterchef irgendwann zu mir: Willst du das jetzt nicht mal richtig machen? So habe ich dort die ersten Produktionen gespielt. Danach war ich in Hamburg auf der Schauspielschule. Um nicht ausschließlich aufs Schauspiel festgelegt zu sein, habe ich noch einen Bachelor in Germanistik und Komparatistik gemacht, Lesungen veranstaltet und drei Bücher mit junger Ruhrgebiets-Literatur herausgegeben. Das war unfassbar viel Arbeit, hat aber großen Spaß gemacht, in all den Kneipen und Clubs die Texte zu performen.
Wie ist das bei deinen Geschwistern?
Meine beiden älteren Schwestern wurden praktisch vom Theater verschluckt! Maja ist mit Tingeltheater gestartet, da geht man mit wenigen Requisiten irgendwohin und spielt für eher theaterfernes Publikum. Dann war Sie lange am Schauspielhaus Bochum, dann in Stuttgart und München und auch im Fernsehen – zum Beispiel hatte sie eine Rolle in „Stromberg“. Meine andere Schwester, Lina, war auf der Folkwang-Schauspielschule in Bochum und hat danach in Zürich und Köln gespielt, jetzt ist sie in Hamburg. Dort habe ich auch eine Produktion mitgemacht und wir waren für kurze Zeit zusammen am Theater. Lina hat viele Theaterpreise bekommen und war 2011 Schauspielerin des Jahres – sie ist ein echter Star und wann immer es geht schaue ich Sie mir auf der Bühne an. Sie ist mit dem Schauspieler Charly Hübner verheiratet, die beiden haben sich in Köln am Theater kennengelernt. Er hat jetzt seinen ersten eigenen Film gemacht – über den Sänger der Punkband „Feine Sahne Fischfilet“, die zeitweise vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Die beiden sind auch fester Bestandteil der SPIELKINDER, genauso wie mein Bruder Nils. Mein anderer Bruder, Malte, lebt in Berlin. Wir sagen immer, er ist Lebenskünstler. Für mich ist er das Musterbeispiel eines würdevollen Punkers. Oder genauer: eine Mischung aus Indianerhäuptling und Punker. (Till lacht)
Was verbindet euch alle?
Unser gemeinsamer Humor. Ich finde nur wenige Menschen so lustig wie meine Geschwister.
Wie haben eure Eltern euch geprägt?
Mein Vater wollte immer Schauspieler werden, aber meine Mutter war dagegen. Vielleicht, weil sie Angst hatte, dass ihm das Familienleben dann zu langweilig wird und er sie verlässt. Mein Vater wurde dann Journalist, er war der erste Student des Studiengangs Journalistik in Dortmund. Anschließend hat er das Zechensterben und den Strukturwandel im Ruhrgebiet für den WDR begleitet. Im Privaten ist er immer in Rollen geschlüpft und hat Späße gemacht. Manchmal hat er auch fürs Kinderradio Hörspiele eingesprochen. Mein Vater ist inzwischen gestorben, ich sehe ihn aber immer noch an seinem Schreibtisch sitzen: Mit einem riesigen grauen Computer und einem Telefon an einer Schnur. Beim Telefonieren hat er immer auf der Schreibtischunterlage gezeichnet. Darin war er richtig gut: Er hatte sogar einmal eine Ausstellung, wo er all seine Bürokritzeleien gezeigt hat. Das waren Zeichnungen neben Telefonnummern und Notizen, zum Beispiel „Vorstandsvorsitzenden anrufen“. Daneben eine Karikatur von ihm selbst, die eine Flasche Champagner ext.
Was hat deine Mutter gemacht?
Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei Jahre alt war. Sie hat ihr Studium abgebrochen und sich um uns fünf Kinder gekümmert. Aber sie war auch Altenpflegerin, hat geputzt und eine Zeitlang in der Videothek gearbeitet. Beim Einkaufen konnte sie uns deshalb immer zeigen, wer von den Leuten aus der Nachbarschaft sich Schmuddelfilme ausleiht! Heute arbeitet sie mit Herz und Hirn als Tagesmutter.
Wie war deine Kindheit?
Meine Kindheit war insgesamt sehr schön. Aber es gibt auch unangenehme Erinnerungen, mit denen ich mich bis heute auseinandersetze.
Überwiegen denn die schönen Erinnerungen?
Ja, ich habe mich als Kind in unserer Familie wohlgefühlt. Wir hatten keinen Fernseher, stattdessen hat meine Mutter uns die Klassiker der Kinderliteratur vorgelesen, zum Beispiel Romane von Michael Ende. Ich kannte kein McDonalds – als ich das erste Mal mit einem Freund dort war, habe ich die Tüte mit nach Hause genommen und sie mir ins Regal gestellt. Dieser Freund hatte coole Rockabilly-Ruhrpott-Eltern, die fuhren mit einem knallroten Pickup herum und haben mich auch mal mitgenommen in den Moviepark. Meine Geschwister und ich sind früher nur in Kratzpullis und Ökoklamotten rumgelaufen – bis ich irgendwann Geld gespart hatte und mir andere Sachen kaufen konnte. Wiedergefunden habe ich mich in den Kindheitsbeschreibungen bei Benjamin von Stuckrad-Barres „Panikherz“. Öko war damals noch ganz anders als heute.
Das klingt alles ein bisschen wie im Kinderfilm.
Irgendwie schon, aber als Kind habe ich mich in der Schule auch oft geschämt, weil wir wenig Geld hatten und unser Haus heruntergekommen war. Viele meiner Mitschüler kamen aus gutbürgerlichen Familien. Was ich als Kind wollte, war eine saubere Doppelhaushälfte, so wie meine Freunde! Später fand ich es dann aber cool bei uns zu Hause. Ich weiß noch, wie wir einmal von einem Klassenkameraden meines Bruders Besuch bekamen: Sein Vater war der Tennisschläger-Bespanner von Boris Becker. Als er sich ankündigte, habe ich alles saubergemacht und ihm Spiegeleier gebraten. Als er da war, konnte man sehen, dass er sich wohlfühlt. Das fand ich gut.
Hast du zu Schulzeiten schon gejobbt?
Ja, ich habe immer versucht, mir selbst was zu verdienen. Ich war Zeitungen austragen und einmal habe ich beim Rheinkultur-Festival in Bonn mit der Antifa-Gruppe Bochum-Herne nachts auf die Mainstage aufgepasst. Bei Oma war ich freitags immer Flur putzen, denn ich brauchte Geld fürs Wochenende.
Was war so los am Wochenende?
Mein Bruder Malte war schon damals in einer Punk-Community und brachte seine Freunde mit zu uns nach Hause, manchmal die halbe Punkszene des Ruhrgebiets. Die haben bei uns alles verwüstet. Aber meistens waren wir draußen unterwegs, oft lange und immer so, dass meine Mutter nichts merkte. Ich war auf Konzerten im Zwischenfall in Bochum, das es heute leider nicht mehr gibt, und auch im Blackout, heute Untergrund.
Haben Drogen eine Rolle gespielt?
Als Jugendlicher war ich in einer Szene, in der unglaublich viel gekifft wurde. Dabei wurden dann amerikanische College-Filme geschaut. Ich fand das immer total langweilig. Mich hat das Kiffen einfach nur müde gemacht und vom Bong rauchen hab ich sofort gebrochen. Also hab ich mich da rausgezogen und etwas später eine Frau kennengelernt, die heute die Mutter meines siebenjährigen Sohnes Kasimir ist.
Wann im Leben hattest du mal richtig Angst?
Ich hatte längere Zeit immer wieder mit der Angst zu kämpfen, dass ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werde. Mit der Versagensangst, dass ich es nicht schaffe, das Stück zu spielen, den Text zu lernen, ein Projekt zu Ende zu bringen. Diese Selbstzweifel führten bei mir zu Schlafproblemen. Das war so mit Mitte, Ende 20. Inzwischen bin ich bei den entscheidenen Sachen angstfrei.
Weil du jetzt erwachsen bist?
Vielleicht! Ich habe inzwischen einfach viel erlebt und verarbeitet. Da war die Trennung von meiner Familie und meinem Sohn. Das war hart, aber inzwischen haben wir es gut gelöst. Auch beruflich war es oft unsicher, ich habe so wenig verdient, dass ich in Dreckslöchern gewohnt habe. Irgendwann habe ich aber festgestellt: Das wirkt sich nicht auf mein Empfinden aus. Die Wünsche anderer Leute sind vielleicht eine schöne Wohnung, Ehefrau, Kind, Job – alles so, dass es nach außen toll aussieht. Ich habe inzwischen gelernt, dass du die Finger davon lassen solltest, wenn du es nicht selbst wirklich willst.
Was macht dich glücklich?
Wenn ich auf der Bühne stehe und spiele, ist es eigentlich egal, wie schlecht es mir gerade geht: nach anderthalb Stunden ist das weg. Das ist wie eine Therapie. Und ich empfinde Glück, wenn ich mit meinem Sohn zusammen bin. Er ist ein empfindsamer und lieber Mensch und ich habe viel Freude mit ihm.
Wenn du jetzt ein Gesetz erlassen könntest, was wäre das?
Ein Handy-aus-Gesetz! Zu bestimmten Zeiten oder nach soundsoviel Stunden ginge einfach der Empfang weg. Damit die Leute mal runterkommen und sich nicht ständig so getrieben fühlen. Es kommt so selten vor, dass die Leute sich richtig zuhören – dieses ewige Abgelenktsein finde ich schrecklich. Das klingt schlimm kitschig, ist mir aber egal. Das hat viel mit Druck und Angst zu tun. Es heißt ja immer, die Digitalisierung muss voran kommen. Ich finde, wir können auch einen Schritt zurück gehen. Wir bestimmen es schließlich selbst.
Was gefällt dir am Ruhrgebiet?
Darüber könnte ich stundenlang reden! Für mich ist es ein Lebensgefühl: Wenn ich eine Weile weg war und in Duisburg oder Dortmund wieder ankomme, dann ist das mein Zuhause. Dann denke ich an meinen Vater, an Diskobesuche im Dortmunder Soundgarden, an das Loch im Westfalenpark, wo wir als Kinder immer durchgeschleust wurden, noch bevor der Park morgens öffnete. Außerdem finde ich es toll, dass ich hier so viele Leute kenne und immer wieder neue Leute treffe. Gemeinsam kann man hier gute Sachen machen. Ist aber noch viel Luft nach oben. Viel!
Hast du ein Beispiel?
Ich habe kürzlich ein tolles Buch gelesen, „Die Beschreibung einer Krabbenwanderung“ von Karosh Taha, erschienen bei Dumont. Die Autorin ist aus dem Irak nach Essen gekommen, bei einer Lesung in einer Straßenbahn habe ich sie kennengelernt. Wir haben gemeinsam drei Lesungen organisiert, eine richtige Show mit Visuals und einem DJ, gefördert vom Literaturbüro Ruhr. Im Ruhrgebiet kannst du schnell etwas auf die Beine stellen, weil die Kulturszene nicht so übersättigt ist wie in anderen Städten.
Ich finde es immer noch spannend, was im Ruhrgebiet passiert ist: Ein Haufen Jobs sind weggefallen, der Bergbau als Haupteinnahmequelle ist einfach verschwunden. Dafür wurde das mit dem Strukturwandel gut gemeistert. Bei aller berechtigten Kritik – das hätte auch ganz anders ablaufen können.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du?
Gaston, der Held meiner Kindheit! Das ist ein Bürobote in einer Pariser Redaktion, der nur Blödsinn macht. Der ist die meiste Zeit faul und hängt rum, aber ab und zu packt ihn der Ehrgeiz und er erfindet bekloppte Sachen. Eigentlich wollte ich meinen Sohn so nennen: Kasimir Gaston. Aber beim Standesamt hieß es: Wie, sie wollen ihren Sohn Kellner nennen? Durch die Aufregung nach der Geburt hab ich dann leider einen Rückzieher gemacht.
Das Interview führten wir im März 2019.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.