Sylvia Hamacher aus Herten
„Sie haben mich angeguckt, als ob ich Abfall wäre.“
Hallo Sylvia. Stell dich doch bitte kurz vor.
Ich bin Sylvia Hamacher, studiere seit 2014 Medizin in Hannover, wohne aber in Herten. Nebenbei arbeite ich noch als Model und habe zwei Bücher über meine Erfahrungen mit dem Thema Mobbing geschrieben. Dazu habe ich auch schon viele Vorträge an Schulen gehalten.
Wie fing das mit dem Mobbing an?
Ende 7. Anfang 8. Klasse kurz vor meinem 14. Geburtstag hat das angefangen. Ich wollte meinen Geburtstag feiern und hatte entschieden, nicht alle aus meiner Klasse einzuladen, weil ich mich dem Gruppenzwang nicht beugen wollte und dachte, es ist ja eigentlich normal, dass man zu einer Party eben nur die Menschen einlädt, die einem am Herzen liegen. Ich habe den Leuten das dann auch erklärt und sie waren auch erst sauer auf mich, haben aber letztendlich gesagt, sie hätten dasselbe Problem, weil sie ja auch nicht immer alle einladen könnten. Und es war ok für sie. Es hieß nur, Hauptsache wir verstehen uns in der Schule und damit war das Thema eigentlich für mich gegessen.
Und das war der Grund?
Ich kann nicht ganz genau sagen, ob das auch wirklich der Hauptauslöser war, aber es war auf jeden Fall ein Konflikt, der mit der ganzen Sache in Zusammenhang stand.
Wie ging es weiter?
Nach der Geburtstagsparty haben meine Freundinnen mich dann gebeten, auch noch eine Halloweenparty zu veranstalten. Ich habe viele Leute aus der Schule dazu eingeladen, die alle felsenfest zugesagt hatten. Ich habe extra einen Raum dafür vorbereitet und Essen gekocht. Aber niemand kam. Ich habe meine beste Freundin angerufen, aber sie hat mich einfach weggedrückt. Ich konnte niemanden erreichen und es ist auch niemand zu meiner Party erschienen. Ich war sehr enttäuscht. Meine Eltern haben versucht mich zu beruhigen und es auf die Pubertät geschoben. Ich sollte versuchen, das zu klären und ruhig mit den anderen darüber zu reden, was ich auch am nächsten Montag versucht hatte.
Wie haben die Mädchen reagiert?
Ich stand mit den Mädchen auf dem Schulhof und ich habe gemerkt, dass die Stimmung komisch war. Einigen war die Situation peinlich. Ich habe ihnen gesagt, dass ich enttäuscht war, dass sie nicht zu meiner Party erschienen sind, obwohl ich doch extra eine machen sollte. Und dass ich glaube, dass sie mir damit eins auswischen wollten, weil ich nicht alle von ihnen zu meiner Geburtstagsparty eingeladen hatte. Und eben, dass ich die Message verstanden hatte, mir aber trotzdem wünschen würde, dass wir das in Zukunft anders regeln könnten und sie einfach direkt auf mich zukommen könnten. Ich wollte ihnen das nicht weiter nachtragen und habe mich erst mal zurückgezogen, um ihnen die Chance zu geben, die Situation auch untereinander zu klären. Die Sache war für mich abgehakt und ich am nächsten Tag wollte ich auch einfach wieder bei ihnen auf dem Schulhof stehen.
Aber am nächsten Tag war die Stimmung in der Klasse ganz anders. Es hat einfach gar keiner mehr mit mir geredet. Sie haben mich komplett ignoriert, als ob ich nicht da wäre. Sie haben mich angeguckt, als ob ich Abfall wäre. Und das war dann immer so. Egal wo ich mich hingestellt habe, ich wurde wie Luft behandelt. Und das tat weh. Die anderen auf dem Schulhof haben das natürlich mit der Zeit mitbekommen. Auch Fünftklässler haben irgendwann angefangen, über mich abzulästern. „Das Opfer! Die hat keine Freunde!“
Ich dachte immer, dass sich das noch irgendwann bessern würde. Ich habe da noch nicht über Mobbing nachgedacht. Aber es wurde nicht besser. Selbst im Unterricht wurde ich ignoriert. Gruppenarbeiten waren einfach nicht machbar. Die Lehrer haben ratlos reagiert und immer wieder gesagt, dass ich mich komisch verhalten würde und gar nicht mehr im Unterricht einbringen würde.
Wie hast du dich dabei gefühlt und verhalten?
Irgendwann habe ich gelernt, damit umzugehen und versucht, es zu ignorieren. Klar – manchmal habe ich geweint, weil es immer noch weh getan hat, aber das hat sie dann nur noch mehr belustigt, also wusste ich, dass das kein Mittel ist, was ich einsetzen könnte. Ich wollte nicht zeigen, dass sie mich verletzten.
Dann ist es eine Stufe weitergegangen als ich dachte. Im Deutschunterricht ist eine Mitschülerin einfach mittendrin aufgestanden und hat laut gesagt „Sylvia ist eine dumme Fotze.“ Einige haben gelacht, andere haben sich angeguckt und gespannt gewartet, was der Lehrer dazu sagt. Mein Lehrer hat das Mädchen nicht angeguckt, sondern nur mich. Seine Augen haben sich mit Tränen gefüllt und er hat mich mit zittriger Stimme gefragt, ob ich irgendwas dazu sagen wollte. Ich hatte gedacht, er würde mich verteidigen oder irgendwas zu dem Mädchen sagen, aber dem war nicht so. Ich habe meine Sachen gepackt und bin weinend nach Hause gegangen.
Meine Eltern sind daraufhin zum Direktor der Schule gegangen. Mein Klassenlehrer sagte nur, er hätte nicht genau verstanden, was meine Mitschülerin da über mich gesagt hätte. Der Kommentar des Direktors war noch besser. „In Zeiten von Bushido & Co. müsste man sich doch gar nicht wundern oder aufregen. Da sind so Ausdrücke wie „Fotze“ doch normale Umgangssprache.“ Meine Eltern meinten nur, dass sie das nicht normal fänden und sie diesen Umgangston für ihre Tochter nicht wünschen würden. Der Direktor meinte, er könne nichts machen. Er fände es normal, die Kinder reden alle so. Nach dem Vorfall galt mein Klassenlehrer bei allen Mitschülern als schwach. Sie konnten sich ab da alles erlauben.
Was haben deine Mitschüler denn alles gemacht?
Es waren so Kleinigkeiten, die einfach nervig waren. Man kann zum Beispiel in die Klasse, hat seine Sachen kurz liegen gelassen, ist auf Toilette gegangen und als man wieder kam, waren die Sachen weg. Hausaufgaben zerrissen, Stifte versteckt, Tasche im Mülleimer ausgeleert oder es stand was Schlimmes auf der Tafel …
Im Sportunterricht stand ich eigentlich immer 1. Aber ab da wurde ich bei Mannschaftsspielen nie gewählt. Ich war immer die letzte und niemand wollte mich in die Mannschaft nehmen. Mein Sportlehrer hatte daraufhin eine ganz tolle pädagogisch wertvolle Lösung parat: Er meinte dann zu den Mädchen, die mich nicht in ihre Gruppe wählen wollten, dass wir dann eben jetzt eine Münze werfen, wer mich nehmen muss. Das war richtig verletzend.
Dann wurden Gerüchte über mich gestreut. Sylvia stinkt, Sylvia hat fettige Haare … ich habe nicht gedacht, dass die Leute das so interessiert, aber es war so.
Es wurde mit der Zeit auch körperlich immer aggressiver. Sie haben mich geschubst und getreten und ich habe mich natürlich gewehrt und zurückgeschubst. Einmal haben die Lehrer mich zur Seite genommen. Ich wäre zu aggressiv und würde meine Mitschüler treten. Ich solle damit aufhören, mich zu wehren und lieber das Verhalten zeigen, was ich mir auch von meinen Mitschülern wünschen würde. Die Lehrer haben mir null Rückendeckung gegeben.
Ich hatte teilweise echt Angst zur Schule zu gehen. Irgendwann ist es so eskaliert, dass mich eine Mitschülerin im Sportunterricht beim Basketball absichtlich in den Rücken geboxt hat. Ich war mir sicher, dass die Schüler und auch der Lehrer das gesehen hatten, aber alle verneinten das. Ich lag am Boden und konnte mich kaum bewegen. Eine Mitschülerin sagte nur „Heul nicht rum, du lebst doch noch!“ Ich hatte richtig Schmerzen, aber habe versucht, die Tränen zu unterdrücken. Als ich zuhause war, bin ich ohnmächtig geworden und meine Mutter hat mich direkt ins Krankenhaus gefahren. Ich hatte einen riesigen blauen Fleck auf dem Rücken und hatte Glück, dass es nicht die Niere getroffen hat. Ich hatte ein Schleudertrauma. Ich musste Anzeige erstatten wegen schwerer Körperverletzung.
Das hat sicher wieder neues Futter gegeben?
In der Schule gab es dann einen neuen Spruch unter den Schülern. „Pass auf, oder ich zeig dich an!“ Sie haben sich darüber lustig gemacht, obwohl es mir wirklich schlecht ging. Ich bekam sogar einen Brief von meinen Mitschülern „Wenn du wieder in die Schule kommst, glaub ja nicht, dass es nochmal so gut ausgeht für dich. Das nächste Mal schubsen wir dich die große Steintreppe vor der Schule runter und treten so lange vor deinen Kopf, bis du Blut kotzt.“
Da war der Punkt für mich erreicht, dass ich die Schule wechseln wollte. Ich wäre da nicht lebend rausgekommen.
Bist du dann direkt zur neuen Schule gegangen?
Eine Zeitlang bin ich nicht in die Schule gegangen, weil ich stark suizid gefährdet war. Ich habe Essstörungen bekommen, bin nicht mehr aus dem Haus gegangen und mir ging es einfach schlecht. Eine Kinderpsychologin konnte mir nicht wirklich weiterhelfen. Dann habe ich ein Coaching bei einer Bekannten gemacht.
Ich wollte nicht immer nur erzählen, was passiert ist. Ich wollte weiterkommen. Ich war ein seelisches Wrack und musste wieder zur Schule gehen. Ich konnte ja nicht mal mehr reden. Da konnte mir die Bekannte gut helfen. Das hat gut gepasst.
Wie war dein Einstieg in der neuen Klasse?
In Zeiten von Internet, Facebook & Co. war es ja nicht leicht, das zu verheimlichen, was mir an der anderen Schule passiert ist, also wollte ich offen und ehrlich mit den neuen Klassenkameraden an der neuen Schule umgehen. Ich habe mich also vor sie gestellt und alles erzählt. Dass ich gemobbt worden bin, wie es mir damit ging, usw. Nachdem ich alles erzählt hatte, sagten sie mir doch tatsächlich „Die Story kannten wir schon. Nur ein bisschen anders.“ Da hatten meine alten Mitschüler nichts Besseres zu tun, als diesen Schülern alles über mich zu erzählen und irgendwie zu versuchen, sie miteinzubinden. Ich habe nachher herausgefunden, dass sie das wohl mit allen Schulen im näheren Umkreis gemacht hatten.
Wie sind deine beiden Bücher angekommen?
Mein erstes Buch habe ich mit 16 Jahren in der 11. Klasse veröffentlicht. Da war ich auf der zweiten Schule. Es war mir klar, dass ich damit wahrscheinlich wieder etwas lostreten würde. Das hat auch meine Psychologin damals gesagt. Und sie hatte recht. Es gingen auf einmal wieder Gerüchte über mich um. Man wollte mir nicht sagen, wer diesen Scheiß über mich verbreitet, also habe ich gezielt gesucht und selbst Gerüchte gestreut, die ich nur einzelnen Menschen erzählte. Eine Sache hatte ich meiner besten Freundin erzählt und ihr so eine Falle gestellt. So habe ich herausgefunden, dass sie das war. Es war so komisch, dass schon wieder eine Person, die mir so nah gestanden hat, mir das Messer in den Rücken gestochen hat.
Mein zweites Buch „Licht ins Dunkel bringen“ habe ich 2013 veröffentlicht. Da ging es um die Zeit nach meinem Schulwechsel. Ich wollte zeigen, dass es mit einem Schulwechsel nicht getan ist. Du musst an dir arbeiten. Statistisch gesehen werden Mobbingopfer auch ein zweites Mal gemobbt. Du verhältst dich komisch. Du musst an dir arbeiten. Es ist auch ok, sich Hilfe zu holen und Hilfe anzunehmen. Über meine Homepage habe ich viele Zuschriften bekommen von Menschen, die das gleiche Schicksal hatten. Ich habe dann deren Geschichten anonym veröffentlicht. Sogar von einem Täter, was ich sehr mutig fand. Ich wollte zeigen, dass so viele betroffen sind, du bist nicht alleine mit dem Thema.
Wäre es nicht besser gewesen, du hättest die Schule viel früher gewechselt?
Ja. Aber ich hatte damals eine Vertrauenslehrerin, die meinte, ich dürfte die Schule jetzt nicht wechseln, weil ich dann den Mitschülern zeigen würde, dass sie recht gehabt haben, dass ich das Problem bin und dass ich einen Kampf aufgebe. Und dann zeige ich denen, dass ich schwach bin. Das hat sich für mich wie ein Stachel reingesetzt. Ich wollte kämpfen und stark sein.
Viele Eltern bringen ihren Kindern bei „Halt dich da raus. Das ist nicht dein Problem. Misch dich nicht ein.“ Und solange Eltern sowas Ihren Kindern sagen, wird es auch keine Zivilcourage geben. Heutzutage denken die Kinder so. Würden sich immer alle einmischen und eingrätschen, gäbe es gar kein Mobbing. Vielen denken sich aber „Ich möchte nicht von den anderen fertig gemacht werden. Ich halt mich lieber geschlossen.“
Wie ist es, wenn du heute neue Bekanntschaften machst?
Ich merke das bei neuen Bekanntschaften. Wenn du erzählst, dass du gemobbt worden bist, denken die Menschen oft das gleiche. „Hmm. Moment mal … Mobbingopfer sind doch klein, dick und hässlich. Du bist eher groß, schlank und hübsch. Also musst du einen anderen Makel haben.“ Und dann fangen sie an zu suchen, was das Mobbing an dir rechtfertigen könnte. Und dann versuche ich zu erklären, dass Mobbing ein System hat und jeden treffen kann. Du musst nur einen falschen Satz am falschen Ort zur falschen Zeit gesagt haben und das war´s. Es kann sich aus so vielen Sachen was Dummes entwickeln.
Ich weiß nicht, warum ich so interessant für diese Menschen bin, aber sie lassen mich auch heute noch nicht komplett los. Ich weiß, dass sie zum Beispiel mein Profil bei Facebook beobachten und ähnliches. Ich kann mir nicht erklären warum.
Warum lebst du im Ruhrgebiet und was gefällt dir hier?
Das hat viel mit Heimatgefühl zu tun. Ich merk das jedes Mal, wenn ich nach Herten fahre zu meinen Eltern. Es gibt so ein kurzes Stück, wenn man von der A2 kommt, da hat man einen schönen Blick auf die Wassertürme und dann steigt der Smog auf und jedes Mal denke ich „Hach schön!“ (lacht) Ich find´s einfach wahnsinnig gut vernetzt hier. Und die Menschen hier sind sehr offen und man lernt einfach sehr schnell neue Leute kennen. Das Ruhrgebiet ist einfach sehr entspannt.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?
Lisa Simpson! Streberin, Weltverbesserin, Kämpferin und mit viel Gerechtigkeitssinn. Ich war aber immer eine liebe Streberin! Ich hab immer gute Noten geschrieben, aber hab die anderen auch immer abschreiben lassen. Und Lisa spielt Saxophon! Ich auch.
Das Interview führten wir im Dezember 2016.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.