Shaghayegh aus Essen
„Meine Freunde sagten mir damals, ich hätte den Punk betrogen.“
Hallo Shaggy, stell dich doch bitte kurz vor.
Hallo. Mein Name ist Shaghayegh, aber das ist für viele zu schwierig auszusprechen. Darum nennen mich seit der siebten Klasse alle Shaggy. Ich bin 33 Jahre alt und komme aus Essen Bergerhausen. Ich studiere Politik und Wirtschaft Ostasiens und mache nebenbei ein Praktikum in der Personalabteilung eines großen Unternehmens. Da lerne ich Recruiting und Hochschulmarketing.
Was ist denn später dein Berufswunsch?
Gute Frage! Das weiß ich selbst noch nicht so genau. Eigentlich wollte ich immer in der Politikberatung arbeiten, aber momentan gefällt mir auch das gut, was ich in meinem Praktikum mache, weil ich gerne mit Menschen in Kontakt bin. Das hat aber leider überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich studiere, deshalb bin ich mir gerade noch unsicher.
Woher kommst du genau?
Ich bin 1987 im Iran in Teheran geboren. Das war am Ende des Iran-Irak-Kriegs. Ich war etwa zwei Jahre alt, als meine Mama und ich nach Deutschland gekommen sind. Das war kurz vor dem Fall der Berliner Mauer 1989. Seitdem habe ich immer in Essen im Ruhrgebiet gewohnt.
Wie kam es dazu, dass du nur mit deiner Mutter nach Deutschland gekommen bist? Was war mit deinem Vater?
1986 ist mein Onkel aus dem Iran nach Deutschland zum Studieren gezogen. Er hat in Essen gewohnt und in Bochum studiert. Meine Mama hatte damals ein Visum, um ihren Bruder zu besuchen. Mein Papa durfte nicht mitkommen. Das war damals die Voraussetzung. Wahrscheinlich dachte man, dass, wenn der Versorger nicht mit nach Deutschland reisen darf, bleibt der Rest der Familie auch nicht da. Aber damals hat mein Vater meiner Mutter dann am Telefon gesagt, dass sie in Deutschland bleiben sollte und er irgendwie versuchen wollte, nachzukommen. Meine Mutter hat dann Asyl beantragt und das wurde auch genehmigt. Mein Vater kam ein Jahr später nach und musste tatsächlich fliehen. Die genauen Umstände kenne ich aber nicht. Wir haben nie ausführlich darüber geredet.
Ich weiß nur, dass er über den Landweg geflohen ist und sich als Touristenführer Geld verdient hat, um über die Grenzen geschmuggelt zu werden. Eine Geschichte hat er mir mal erzählt … Da saß er eines Abends mit einem Typen in einer Bar in Bulgarien, der dafür verantwortlich war, ihn über die Grenze zu bringen. Er sagte meinem Vater, dass er nach oben in sein Zimmer gehen sollte und aus dem Koffer ein Foto von der Tochter des Schmugglers bringen sollte. Als er zu dem Koffer ging, war der voller Bargeld und Waffen und eben diesem Foto von der Tochter des Schmugglers. Er hat das Foto genommen und ist wieder in die Bar gegangen, um das Foto zu übergeben. Das hat den Mann dazu veranlasst, meinen Vater über die Grenze zu schmuggeln, weil er ihm vertrauen konnte. Er hat eben das Geld und die Waffen im Koffer nicht angerührt. So wurde ihm geholfen, nach Deutschland zu kommen.
Hast du noch Familie im Iran?
Ja. Ich habe zwar noch Verwandte in London, mein Onkel ist mittlerweile nach Regensburg gezogen und dann habe ich noch eine Cousine in Kanada. Aber sonst leben alle im Iran. Als ich zwölf Jahre alt war und ich einen deutschen Pass hatte, sind wir das erste Mal wieder zurück in den Iran gefahren. Damit wir die Sicherheit hatten, dass wir auch wieder zurück nach Deutschland fahren können.
Und wie war das für dich wieder im Iran? Bestimmt sehr fremd, oder?
Eigentlich ja, aber dann wiederum auch gar nicht. Meine Eltern haben mir immer viel erzählt und Fotos gezeigt. Meine Mama hat ja auch zuhause immer persisch gekocht. Immer mit Safranreis – das riecht schon immer ganz anders. Und der Reis hat auch immer eine Tahdig – das ist eine Reiskruste. Das ist wirklich lecker. Und typisch persisch ist auch der Tee.
Wo bist du zur Schule gegangen in Essen?
Ich bin zuerst auf die Münsterschule in der Innenstadt gegangen. Das war eine katholische Schule. Eine andere Iranerin und ich waren die einzigen ausländischen Schülerinnen in der Klasse. Jeden Morgen wurde gebetet und zum Kreuz geguckt. Jede Woche waren wir in der Münsterkirche zum Gottesdienst. Meine Eltern hatten ja mit Religion gar nichts am Hut, aber irgendwie war es ganz interessant für mich und hat mir gut gefallen. Danach war ich auf dem Burggymnasium bis zur neunten Klasse und danach auf dem Maria-Wächtler-Gymnasium. Ich hatte mich damals mit meiner besten Freundin zerstritten und habe meine Mutter gebeten, die Schule wechseln zu dürfen. Ich wollte sie einfach nicht mehr sehen. Meine Mutter hat eingewilligt.
Da war ich auch der totale Außenseiter.
Warum?
Ich war damals Punk. Und die Schüler auf dem MWG waren eher etwas etepetete – wie so der Essener Süden ist. Da passte ich nicht wirklich rein, aber die Entscheidung war trotzdem richtig.
Wie sahst du damals als Punk aus?
Bunte Haare, gepierct, das volle Programm. Ich war oft auf Demos, leicht politisch, aber in dem Alter hat man noch nicht so viel verstanden und glaubt das nur. Da war ich so 14 Jahre alt, als das anfing, und es ging etwa bis ich zwanzig war.
Was war dann?
Ich weiß noch, dass meine Freunde mir damals sagten, ich hätte den Punk betrogen. Mein Papa hatte mir eine Tommy-Hilfiger-Hose gekauft und ich fand die voll schön. Das passte natürlich überhaupt nicht zum Punk-Dasein. Zu der Zeit wurde mir das auch alles zu extrem. Das mochte ich nicht. Die Linken können auch radikal sein und sehr schnell wie die Rechten werden. Da gab es einen Typen, der Mercedes-Sterne weggetreten hat, und da dachte ich mir, was kann denn der andere Typ dafür? Lass doch seine Karre in Ruhe, der hat doch dafür gearbeitet. Ich merkte dann, dass das alles nichts mehr für mich war und stieg da aus. Meine Eltern waren froh.
Aber sie haben dich auch immer machen lassen?
Meine Eltern haben schon einiges mit mir mitgemacht. Ich bin froh, dass ich den Freundeskreis von damals nicht mehr habe. Da sind schon einige mittlerweile am Drogenkonsum gestorben. Wenn ich jetzt so drüber nachdenke, ist das schon krass. Das war mir damals alles nicht so bewusst. Ich habe aber irgendwann gemerkt, dass mir das viele Trinken und Kiffen nicht gut tat und ich mein Abi einfach nicht schaffen werde, wenn ich mit den Leuten zusammen bleibe. Also habe ich den Kontakt komplett abgebrochen.
Was hast du nach der Schule gemacht?
Nach meinem Abi 2008 war ich für einige Monate in Holland und habe mein niederländisches Staatsexamen für Niederländisch als Zweitsprache gemacht. Danach habe ich hier in Deutschland für zwei Semester Politikwissenschaften studiert, aber dann mitten im Studium gemerkt, dass ich eigentlich lieber Künstlerin wäre und etwas schaffen möchte. Außerdem wollte ich auch mal was Neues sehen und die Welt entdecken – also bin ich nach London gezogen und habe da an der London Metropolitan für ein Jahr lang Grafikdesign studiert.
Meine Noten waren ganz gut, aber ich habe in London echt zu viel gefeiert. Meine Eltern hätten es mir weiter finanziert, damit ich meinen Abschluss mache, und das tut mir auch bis heute leid. Ich habe aber nach dem Jahr gemerkt, dass ich meinen Abschluss da nie machen würde und ich einfach nicht vorankam. Also bin ich wieder nach Deutschland gezogen.
Was hast du dann hier gemacht?
Ich habe an der Folkwang Universität in Essen Kommunikationsdesign studiert. Das habe ich aber auch nach etwa zwei Jahren abgebrochen. Zu der Zeit war ich depressiv und richtig unglücklich. Ich bin teilweise gar nicht aus dem Bett rausgekommen. Ich wusste auch gar nicht, woran das lag. Immerhin hatte ich alle Möglichkeiten. Meine Eltern haben alles bezahlt, ich bin an meinen Wunsch-Universitäten angenommen worden, durfte sogar in London studieren, hatte dann eine schöne Wohnung in Rüttenscheid – aber ich war nicht glücklich damit.
Das Thema „Kunst“ war also nichts für dich?
Genau. Ich habe zwar immer noch Spaß am Zeichnen, aber habe auch gemerkt, dass das nicht mein Leben ausfüllen wird. Dann fiel ich in ein Loch und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich habe mich dann an der Uni in Bochum für Chinesisch und Orientalistik eingeschrieben. Einfach nur, weil ich irgendwas anderes machen wollte. Dafür musste ich allerdings dann Arabisch lernen und das hat mir überhaupt nicht gefallen. Das ist super kompliziert. Zusätzlich wurde an der Uni auch Politik Ostasiens angeboten und da mir damals Politik im Studium schon Spaß gemacht hat, wollte ich das ausprobieren. Und das gefällt mir wirklich gut. Momentan mache ich meine Masterkurse und schreibe meine Bachelor-Arbeit.
Du hast auf Instagram 16.000 Follower. Wie kommt das?
Ich habe sehr viele Fotos von mir in Röcken und Kleidern gepostet. Und dazu ziehe ich gerne unterschiedlichste Strumpfhosen an. Irgendwann fingen einige Menschen an, meine Bilder zu reposten und auf einmal hatte ich ganz viele Strumpfhosen-Fetisch-Fans. Das stört mich nicht, ich fand das ganz witzig. Jetzt ist es aber ein bisschen gemischter. Der Frauenanteil ist etwas höher geworden. Ich poste momentan aus Zeitgründen sowieso nicht mehr so viel, aber das war damals der Hauptgrund, warum ich so viele Follower bekommen habe.
Ich bekomme auch manchmal total abgefahrene Anfragen. Dass ich getragene Strumpfhosen verschicken soll zum Beispiel. Ich hab das aber nie gemacht. Einer meiner Follower hat mir sogar mal ein Paket mit Strumpfhosen und teuren Schuhen geschickt. Das ist echt verrückt. Aber auch meine Familie aus dem Iran folgt mir auf Instagram und ich will gar nicht, dass das so ausartet.
Mit meiner besten Freundin mache ich seit letztem Jahr einen Podcast. Der heißt „duttig und dreist“. Das war ganz spontan. Und nach einem Jahr haben wir damit bisher erst knapp über 100 Follower. Und das war ein Kampf! Da sieht man mal, dass es nicht immer so leicht ist, viele Follower zu bekommen. Ich habe auch den größten Respekt vor Influencern. Ich weiß, dass das einfach viel Arbeit ist und nicht von alleine passiert.
Hast du schon mal negative Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit gemacht?
Auf jeden Fall. Das erste Mal, dass ich gemerkt habe, dass ich offensichtlich keine Deutsche bin, das war zu Grundschulzeiten. Da bin ich mit meiner Freundin Monika zur Schule gelaufen und da waren ein paar Jungs, die uns zugerufen haben „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“. Und das hab ich nicht verstanden. Woher soll man in dem Alter wissen, was ein „Ausländer“ ist. Dann ist mein Vater mit mir zu diesen Jungs gegangen und hat denen die Meinung gesagt. Die haben mir danach nichts mehr zugerufen.
Mit 14 wurde ich mal verprügelt und man hat mir gesagt „Scheiß Türkenfotze, geh zurück in die Türkei.“ Ich dachte mir nur „Ich komm doch gar nicht aus der Türkei?!“. Ich hatte damals eine Zahnspange und alles hat geblutet. Ich habe mich nicht getraut, das damals meinen Eltern zu erzählen.
Ich höre oft so Fragen wie „Wo kommst du her?“, „Wann gehst du wieder in deine Heimat zurück?“ oder „Du sprichst aber gut Deutsch.“ Ja klar! Ich bin ja auch hier aufgewachsen. Was denken die Menschen denn? Ich lebe hier und ich werde auch hier bleiben. Ich bin doch Deutsche! Vor ein paar Jahren – etwa 2015 – war ich in der Straßenbahn und neben mir zwei ältere Männer. Ich hatte Kopfhörer auf und habe leise Musik gehört. Die Männer konnte ich aber hören, und die fingen an, über Flüchtlinge zu sprechen. Sie haben gedacht, ich würde sie nicht verstehen und sagten so Sachen wie „Diese scheiß Flüchtlinge. Auf unsere Kosten kauft die sich so teure Kopfhörer!“ Da dachte ich echt, was die das angeht, woher ich meine Kopfhörer habe. Und außerdem „Woher willst du wissen, dass ich deine Sprache nicht spreche? Ich spreche die sehr gut. Ich spreche sieben Sprachen!“ Das hat mich sehr aufgeregt und sowas passiert einfach oft.
Was magst du am Ruhrgebiet?
Ich liebe das Ruhrgebiet. Ich mag auch das Industrielle und Graue, was Viele so hässlich finden. Aber Essen ist auch nicht überall grau. Du findest so viele nette Ecken. Und ich mag die Art, wie die Leute im Pott sind und miteinander reden. Wenn mein Freund zu mir sagt „meine Olle“, dann finde ich das nicht schlimm. Für mich ist das typisch Pott. Die Leute sind angenehm asozial.
Wenn das Leben ein Comic wäre, wer wärst du dann?
Dann wäre ich Spiderman. Der ist doch mal arschcool. Der kann überall hin und ich mag Spinnen. Ich wäre dann eben Spiderwoman.
Das Interview führten wir im Januar 2021.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.