Oliver Scheytt, 66, aus Essen
„Man kommt als Gast und geht als Kumpel.“
Hallo Oliver, stell dich doch bitte einmal kurz vor. Wer bist du und was machst du?
Ich bin ein echter „Ruhri“ und seit frühester Kindheit im Ruhrgebiet zu Hause, auch wenn mein Geburtsort Köln ist. Mein Vater, Domorganist am Altenberger Dom, zog mit mir als Baby nach Essen, wo er eine Stelle an der Kreuzeskirche übernahm. Hier bin ich groß geworden, in der Essener Innenstadt, einer Gegend, die damals wenig beliebt war. Die beiden großen Themen, die mich seit meiner Jugend beschäftigen, sind die Musik und der Wunsch, die Stadt kulturell weiterzuentwickeln. 1993 bin ich Kulturdezernent von Essen geworden und konnte diesen Traumjob 16 Jahre lang ausüben. Seitdem habe ich viel erlebt und entwickelt, aber geblieben ist die enge Verbundenheit zur Kultur dieser Region. Heute leite ich „Kulturexperten“, eine Beratungsfirma, die sich darauf spezialisiert hat, Köpfe für Kulturinstitutionen und -projekte zu finden.
Das klingt nach einer spannenden Reise. Was waren wichtige Stationen auf deinem Weg in den Kulturbereich?
Eine entscheidende Erfahrung war meine Zeit beim Deutschen Städtetag, wo ich die Städte in Deutschland kennengelernt habe. Nach dem Fall der Mauer wurde ich Beauftragter für die DDR-Städte, und das ermöglichte mir, die Entwicklung Ostdeutschlands aus nächster Nähe mitzuerleben. Als Kulturdezernent in Essen hatte ich dann das Privileg, mehrere Bereiche zu verantworten, darunter Kultur, Freizeit und später auch Bildung sowie Grün und Gruga. In dieser Funktion war ich für bis zu 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich und konnte Projekte vorantreiben, die die Stadt und die Menschen wirklich geprägt haben.
Du hast Kultur und Bildung zusammengebracht und mit vielen Projekten Essens Kulturleben bereichert. Welche Projekte waren dir besonders wichtig?
Ganz oben auf der Liste steht natürlich die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Dieses Projekt war ein Meilenstein für das Ruhrgebiet und hat die Wahrnehmung der Region in ganz Europa verändert. Gemeinsam mit meinem Kollegen Fritz Pleitgen, der die Geschäftsführung leitete, hatten wir uns von Beginn an vorgenommen, das Lebensgefühl der Menschen hier sichtbar zu machen und ihnen ein neues Selbstbewusstsein zu geben. Die Sperrung der A40 für die Menschen war zum Beispiel so eine Aktion, die durch ihre Symbolkraft viele tief berührt hat. Als dann am Tag der Sperrung Fußgänger und Fahrradfahrer die Autobahn übernahmen, wurde ein Stück Ruhrgebietsgeschichte geschrieben.
Ein weiteres bedeutendes Projekt waren die „Schachtzeichen“: Über 300 gelbe Ballons markierten die ehemaligen Zechenstandorte und symbolisierten den Wandel von der Industrie zur Kultur. Über 3.000 Menschen haben hier ehrenamtlich mitgeholfen und mitgearbeitet, und jeder einzelne Ballon erzählte die Geschichte eines Ortes, der früher von Kohle und Stahl geprägt war. Diese Gemeinschaft und das Bewusstsein für das eigene Erbe haben mir sehr viel bedeutet.
Wie würdest du Essen und seine kulturelle Landschaft beschreiben?
Essen ist in der Kultur absolute „Champions League“. Wir haben mit dem Aalto-Theater, der Folkwang-Universität und dem Museum Folkwang weltweit bekannte Institutionen. Besonders Zollverein, das Welterbe der Industriekultur, ist zur Ikone für das Ruhrgebiet geworden. Die Menschen identifizieren sich stark mit diesen Orten. Bei der Meisterfeier von Borussia Dortmund 2011, zum Beispiel, waren auf den Fahnen das Symbol von Zollverein und das Motto „Meister im Pott“ zu sehen. Das zeigt, dass Zollverein heute ein Symbol für das gesamte Ruhrgebiet und für die Menschen hier ist.
Hast du im Ruhrgebiet einen Lieblingsort, an dem du dich besonders wohl fühlst?
Die Kreuzeskirche ist für mich ein ganz besonderer Ort. Sie wurde mit Unterstützung von Reinhard Wiesemann und Städtebauförderung im Jahr 2014 in einen multifunktionalen Raum verwandelt. Wir haben dort zur Eröffnung nachts eine Disco veranstaltet und am nächsten Morgen Gottesdienst gefeiert. Es ist jetzt ein Ort für Begegnungen zwischen Glaube, Wissenschaft und Kunst. Außerdem liebe ich Zollverein, insbesondere das choreographische Zentrum PACT Zollverein. Früher haben sich die Bergleute dort in der Waschkaue umgezogen, heute wird an diesem Ort wieder geschwitzt, aber jetzt auch getanzt und Kunst gemacht. Es ist ein fantastisches Beispiel dafür, wie Arbeit und Kultur in einer Stadtgeschichte zusammenfinden.
Neben deiner Tätigkeit als Kulturdezernent warst du auch ehrenamtlich engagiert. Was hat dich in dieser Hinsicht geprägt?
Ich hatte immer viele ehrenamtliche Projekte. Besonders prägend war meine Rolle als Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft, einer Vereinigung von rund 1.500 Mitgliedern, die kulturpolitische Fragen parteiübergreifend diskutiert. Kulturpolitisches Engagement bedeutet für mich, über Kunst den Gemeinsinn zu stärken. Kunst ist der Kern jeder Kultur, weil sie Fragen stellt, die uns bewegen und zur Reflexion anregen. Gerade durch die Arbeit in der Kulturpolitischen Gesellschaft konnte ich viele engagierte Menschen kennenlernen und Netzwerke aufbauen, die bis heute bestehen.
Wie kam es zur Gründung deiner Firma „Kulturexperten“ und was machst du dort?
Nach meiner Zeit als Kulturdezernent wollte ich die Erfahrungen, die ich mit Personalführung und Kulturpolitik gesammelt habe, in eine neue Richtung lenken. Bei der Kulturhauptstadt haben wir das Projektteam von fünf auf 160 Personen aufgestockt, und ich war für das komplette Recruiting verantwortlich. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig die Auswahl der richtigen Menschen ist, um Kulturprojekte erfolgreich umzusetzen. Mit „Kulturexperten“ suche ich heute Führungspersönlichkeiten für Kultureinrichtungen. Es geht darum, Menschen zusammenzubringen, die kulturelle Projekte mit Leidenschaft und Kompetenz voranbringen können. Inzwischen habe ich ein tolles Team, das meine Arbeit fortführt und selbstständig die Mission weiterträgt.
Kulturarbeit kann sehr fordernd sein. Wie entspannst du im Alltag?
Musik spielt für mich eine große Rolle, insbesondere der Tango. Während der Pandemie habe ich einen großartigen Tango-Pianisten, Pablo Estigarribia, entdeckt, und heute musiziere ich selbst regelmäßig mit einem Akkordeonisten. Wir spielen kleine, jazzige Tangostücke und treten ab und zu öffentlich auf. Es ist eine wunderbare Möglichkeit, das Leben zu genießen und abzuschalten. Außerdem reise ich sehr gerne, und eine zweite Heimat ist das Salzkammergut in Österreich. Meine Familie hat dort ein Haus, und ich genieße es, Zeit in dieser wunderbaren Berg- und Seenlandschaft zu verbringen.
Was inspiriert dich musikalisch? Hast du musikalische Vorbilder?
Ich bin vielseitig, was die Musik angeht – ich höre von bayerischer Blasmusik bis Wagner alles, was mich berührt. Aber im Moment bin ich stark vom Tango inspiriert. Pablo Estigarribia ist mein großes Vorbild. Er lebt in Buenos Aires und gibt Klavierstunden, auch online. Ich hatte die Chance, eine Stunde mit ihm zu verbringen, und das hat meine Begeisterung für Tango enorm beflügelt. Ich hoffe, bald nach Buenos Aires zu reisen und dort das Tango-Leben kennenzulernen. Es ist ein großer Traum, in den Clubs zu sein und die Kultur hautnah zu erleben.
Du hast viel über das Ruhrgebiet erzählt. Gibt es eine Eigenschaft dieser Region, die dir besonders am Herzen liegt?
Die Kumpelhaftigkeit, das ehrliche Miteinander. Die Menschen hier nehmen dich so, wie du bist. Ich mag den Spruch „Man kommt als Gast und geht als Kumpel“ – das ist nicht nur eine Phrase, das wird hier wirklich gelebt. Man hilft sich, man begegnet sich auf Augenhöhe, und das gibt der Region eine große Wärme. Das Ruhrgebiet hat dieses bodenständige, humorvolle Miteinander, das mich immer wieder aufs Neue begeistert.
Gibt es auch etwas, das dich am Ruhrgebiet stört?
Definitiv der öffentliche Nahverkehr. Nach meinen Reisen durch Europa und Besuchen in Städten wie Wien oder Freiburg merke ich immer wieder, dass das Ruhrgebiet in Sachen Nahverkehr viel Aufholbedarf hat. Woran erkennt man einen Ruhri in einer Metropole? Er rennt der Straßenbahn hinterher, weil er glaubt, die nächste kommt erst in einer halben Stunde! Das ist eine Herausforderung, die hoffentlich bald angegangen wird.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du?
(lacht) Da wäre ich wohl Schröder aus den „Peanuts“ – der Klavierspieler, der auch manchmal etwas vertrottelt wirkt. Er spielt oft am Rande des Geschehens, ist aber ganz in seiner Musik versunken. Vielleicht würde ich mich im Comic auch auf eine Bühne stellen und den Leuten ein bisschen über das Leben und die Kultur im Ruhrgebiet erzählen.

Das Interview führten wir im Mai 2024.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.