Jan Jessen aus Essen
„Jeder Krieg, den sie beginnen, bedeutet unendliches Leid, bedeutet Opfer, Opfer, Opfer!“
Hallo Jan, bitte stell dich doch kurz vor.
Ich bin Jan Jessen, Redakteur bei der NRZ, seit 20 Jahren. Ich bin eigentlich ausgebildeter Krankenpfleger, als Quereinsteiger aber dann zum Journalismus gekommen. Zufall. Ich mache politische und regionalpolitische Berichterstattung und Reportagen, aber mein Steckenpferd sind eigentlich Auslandsreportagen, insbesondere Kriegs- und Konfliktberichterstattung. Das mache ich dann für die gesamte Funke-Gruppe.
Bist du in Essen geboren?
Ich bin gebürtig Münsteraner. Aufgewachsen in Rheinhessen, dann zum Niederrhein gezogen und seit 15 Jahren lebe ich in Essen.
Warum bist du nach Essen gezogen?
Wegen des Jobs. Ich habe angefangen, in einer Lokalredaktion am Niederrhein in Kleve zu arbeiten. Dann habe ich ein Volontariat gemacht. Irgendwann bin ich in die Politikredaktion der NRZ hier in Essen gewechselt. Damals bin ich zwei Jahre lang von Goch hierhin gependelt. Da hast du irgendwann keinen Bock mehr drauf. Entweder mit dem Auto zwei Stunden unterwegs oder drei Stunden lang mit dem Zug, damit du ein bisschen vorarbeiten kannst. Morgens um acht Uhr raus und um 21 Uhr zurück – da hast du gar nichts mehr vom Leben.
Wie genau bist du zur Kriegsberichterstattung gekommen?
Seit 2011 bin ich regelmäßig mit der Caritas Flüchtlingshilfe Essen im Irak, das ist ein kleiner Verein den ich mit Freunden zusammen gegründet habe. Wir unterstützen im Irak aktuell insbesondere jesidische Geflüchtete und bauen dort Wohncontainer, Fußballplätze, Gewächshäuser und all sowas. Da lag das Thema einfach nah.
Wie läuft das genau ab, wenn du da bist? Wie kannst du dich verständigen? Wie kommst du an Informationen?
Man bereitet sich auf solche Reisen vor. Das geht durch das Internet mittlerweile schneller, als das früher der Fall war. Du suchst immer sogenannte Fixer vor Ort. Meistens sind das einheimische Kolleginnen und Kollegen, die sich dort auskennen. Die organisieren dann Transport und Übersetzer, die ersten Termine und sagen, wo man sicherheitstechnisch hingehen sollte und kann.
Wie ist deine Verbindung zum Friedensdorf in Oberhausen?
Das Friedensdorf habe ich vor fünf, sechs Jahren kennengelernt. Da sind wir nach Kambodscha gefahren. Es muss auch nicht immer Krieg und Konflikt sein, es können auch einfach spannende Länder sein. Kambodscha ist eines meiner Lieblingsländer.
Dann haben sie mich mal eingeladen, ihre Projekte zu besuchen – die Basisgesundheitsstation. Ich fand das super. Ich war mit Claudia Peppmüller unterwegs, hab mich mit ihr sehr gut verstanden und dann ergab es sich im vergangenen August, dass ich mit ihr nach Afghanistan geflogen bin. Dort haben uns dann die Taliban überrascht mit ihrem energischen Vormarsch. Und daraus ist dann natürlich eine relativ enge persönliche Beziehung geworden. Wenn du in solchen Extremsituationen bist, wo du nicht wirklich weißt, wie es weitergeht, schweißt das schon zusammen. Also wenn man mit den richtigen Leuten unterwegs ist. Und seitdem arbeite ich da auch so ein bisschen ehrenamtlich mit im Friedensdorf.
Bist du in Kriegsgebieten schon in heikle Situationen geraten?
Es gibt immer wieder Situationen, die extrem sind – wie zum Beispiel damals am Flughafen von Kabul, als wir fliehen mussten. Die Menschenmenge war komplett in Panik und es wurde geschossen. Die Verzweiflung der Leute war groß und sie schrien „Sir, help me! Help me!“ und du marschierst dann einfach durch mit deinem deutschen Pass. Weil du weißt, wenn du stehen bleibst, ist es vorbei. Also rufst du „German citizen!“, hältst den Pass hoch und die Amis prügeln dir den Weg frei. Die Leute lässt du hilferufend zurück. Das war schon ziemlich bitter.
Hast du dann keine Todesangst?
Es gibt natürlich Situationen, wo man merkt, dass es schon enger wird. Wo das Herz ein bisschen schneller geht. Aber im Prinzip nicht.
Man weiß nie, was passieren kann. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich komplett angstbefreit bin. Das definitiv nicht. Aber so eine panische Angst ist das schlimmste, was dir passieren kann. Du funktionierst dann nicht mehr richtig. Das ist mir zum Glück bislang noch nicht passiert.
Würdest du sagen, die Situation in Kabul war so ziemlich das heftigste, was du erlebt hast?
Nicht von der Bedrohung, eher vom Emotionalen her. Weil es so schlimm war, dass wir da durchstiefeln, privilegiert wie wir sind, mit unseren Pässen und die anderen Leute zurückbleiben. Ich war in Mossul während der Kämpfe 2016/2017. Da gab es bedrohlichere Situationen im Sinne von Schießereien und Mörseranschlägen.
Du hast eine Frau und zwei Kinder. Macht sich deine Familie eigentlich keine Sorgen?
Meine Frau ist da mittlerweile ziemlich geländegängig geworden. Das war am Anfang natürlich immer ein großes Diskussionsthema. Aber mittlerweile vertraut sie mir da auch. Ich bin jetzt auch kein klassischer Kriegsreporter, der da hingeht, wo es nur scheppert und knallt. Ich bin Schreiber. Und als Schreiber kannst du in so einer Situation sowieso nicht viel machen. Was willst du da groß schreiben? Mein Ding sind die Menschen dahinter. Was macht das mit denen? Die Leute, die fliehen mussten. Das ist ja das krasse an der Situation. Da verändern sich Lebenswirklichkeiten von einer Sekunde auf die andere. Da sind Leute, die haben ihren normalen Job, Familie, Wohnung, was weiß ich nicht was – und plötzlich von einem Tag auf den anderen ist alles anders. Es ist ein unfassbares Privileg, dass wir Leute in solchen Lebenssituationen treffen, die sich öffnen und uns Teil werden lassen. Die wollen erzählen, weil es deren Bedürfnis ist.
Das Leben ist so kristallklar in solchen Gebieten. Ich mag es nicht, wenn im Krieg Konflikte so abstrakt werden, einfach nur Zahlen sind und politische Entscheidungsprozesse dargestellt werden. Ich finde es wichtig, dass die Geschichten der Menschen erzählt werden.
Hast ein aktuelles Beispiel so einer Geschichte?
Wir waren vergangene Woche noch in der Ukraine. Wir waren jetzt viermal da seitdem der Krieg begonnen hat und haben ein Projekt mit einem Foto-Kollegen gemacht. Die üblichen Reportagen, aber auch gleichzeitig eine Fotostrecke „Menschen“ oder „Faces of war“ haben wir das Projekt genannt. Diesmal haben wir Menschen vorgestellt, die alles verloren haben. Da sind wir an einem Parkplatz, wo Panzerwracks von der russischen Armee aufgetürmt waren, die da vor sich hin rosteten. Das wollten wir fotografieren. Daneben standen aber auch Autos von Zivilistinnen und Zivilisten, die zerballert worden waren. Und vor einem dieser Autos stand ein Mann, von Weinkrämpfen erschüttert. Da hab ich meine Dolmetscherin hingeschickt. Sie spricht mit ihm kurz und sagt: „Das ist echt eine krasse Geschichte. Der steht hier vor dem Auto zum ersten Mal, wo seine Frau, sein Sohn und sein Schwiegervater getötet worden sind.“. Er erzählte uns, dass sie Anfang März aus Homostel geflohen sind, das ist der Flughafenbereich vor Kiew. Er wollte eigentlich nach Kiew und fuhr hinter dem Auto, in dem sein Sohn gefahren ist, weil der sich da besser auskannte. Und sah dann, wie direkt vor ihm die Familie von schwerem Maschinengewehrfeuer zerfetzt wird. Er musste fliehen und die Leichen lagen noch über einen Monat lang im Auto, bevor er sie beerdigen konnte. Er stand dann nochmal an dem Auto, um sich zu verabschieden.
Er stand da – vor diesem kleinen Mitsubishi Colt mit Einschusslöchern – im Wagen die blutverschmierte Handtasche seiner Frau, kleine Söckchen von einem Kind … und er berührt das Auto, versucht, irgendwie eine Verbindung aufzunehmen, schließt dann die Autotür und geht.
Ich finde es total wichtig, sowas zu erzählen. Man hört sonst immer nur die nackten Zahlen und liest: „um die 45.000 Tote in der Ukraine“. Das ist nur eine Zahl. Du kannst damit nicht viel anfangen. Aber das kannst du eben mit jedem Schicksal – weil das jeder nachempfinden kann. Es ist wichtig, immer wieder diese Geschichten zu erzählen und diese auch insbesondere politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern aufzudrücken. Damit bei jeder Entscheidung, die sie treffen klar ist, was Aufrüstung und Waffenlieferungen „on the ground“ bedeuten. Jeder Krieg, den sie beginnen, bedeutet unendliches Leid, bedeutet Opfer, Opfer, Opfer! Zerrissene Leben, zerrissene Familien, neue Grabhügel … und ich finde, das muss eben erzählt werden.
Wie oft willst du noch in die Ukraine?
Das kommt darauf an, wie lange der Krieg dauert. Wir wollen jetzt Anfang Juni wieder für zwei Wochen hin. Ich muss jetzt erstmal ein bisschen Pause machen wegen der Landtagswahlen. Ist manchmal ein bisschen schwierig, so umzuswitchen.
Das Problem bei solchen Konflikten ist natürlich auch, dass man sich daran gewöhnt. Also nicht als Berichterstatter, sondern als Publikum sozusagen. Man merkt, der Krieg rutscht immer weiter weg in den News. Das Ganze geht jetzt so in einen Abnutzungskrieg über, und ich finde, das darf eben auch nicht passieren. Du musst das Bewusstsein dafür, was da passiert, immer wieder aufrechterhalten. Das ist generell das Problem bei der Ukraine. Ich war im April vergangenen Jahres da. In Donbass an der Kontaktlinie, wo seit 2014 gekämpft wurde und wird. Und da hat ja keiner mehr groß drüber gesprochen. Minsker Abkommen interessiert keinen. Und die Lebenswirklichkeit der Leute sah eben so aus, dass denen jeden Tag Kugeln und Granaten um die Ohren geflogen sind.
Ich finde es wichtig, dass man da nachhaltig arbeitet und immer wieder darüber berichtet, damit nichts in Vergessenheit gerät. Das gilt auch für andere Konfliktgebiete. Ich halte es für eine Schande, dass über Afghanistan einfach nicht mehr berichtet wird, obwohl die Not da immer größer wird. Oder über den Irak, wo immer noch in Kurdistan über eine Millionen Geflüchtete leben, die nicht in ihre Heimat nach Shingal zurückkehren gehen können, wird überhaupt nicht mehr darüber berichtet. Das ist einfach scheiße. Das muss eigentlich eine kontinuierliche Geschichte sein, und da tragen wir als Journalisten auch die Verantwortung für.
Wie kannst du abschalten, wenn du so viel Leid siehst? Macht das nicht psychisch was mit dir?
Ich bin Krankenpfleger von Haus aus. Da musst du dir sowieso gewisse Schutzmechanismen aneignen, weil du sonst kaputt gehst und damit hilfst du den Leuten dann auch nicht mehr. Ich sage mal, du musst mit dem Herzen dabei und empathisch sein.
Wenn dein Herz nicht mehr mitspielt, bist du ein Stein. Dann solltest du aufhören, dann bist du nur noch zynisch. Wenn es deine Seele anpackt und du davon träumst, solltest du auch aufhören, weil es dich dann irgendwann zerfrisst. Aber das kriege ich glaube ich noch ganz gut hin. Man ist eben auch Profi.
Mal zu etwas Positivem: Was in deinem Leben hat dich besonders glücklich gemacht? Wo hast du besonders viel Glück erfahren?
Insbesondere erstmal durch meine Familie – logisch. Aber was ich total schön finde: Jetzt aktuell bauen wir eine Schule in Shingal. Die Shingal-Region ist im Nordwesten vom Irak, die Heimat der Jesidinnen und Jesiden, wo sie 2014 vertrieben worden sind. Wir haben jahrelang für diese Camps gearbeitet und jetzt bauen wir da gerade eine Schule. Und das Projekt läuft, sieht toll aus und ist jetzt bald fertig. Das macht mich glücklich. Oder ein Gewächshausprojekt, was wir da verwirklichen. Oder Serhap … eine junge Frau, die 2014 mit 12 Jahren vom IS entführt worden ist. 2019, also fünf Jahre später, wurde sie befreit. Sie ist während ihrer Gefangenschaft zigmal vergewaltigt worden und hat drei Kinder. Sie wurde von einem Mann des IS-Geheimdienst festgehalten und musste dort auch mitansehen, wie Leute zu Tode gefoltert wurden. Als wir sie trafen, war sie eine total zerstörte junge Frau. Was können wir für sie tun? Wir haben ihr eine ambulante psychologische Beratung angeboten oder Traumatherapie. Aber sie hat abgelehnt. Dann wollten wir ihr eine Lehrerin besorgen, weil sie eben die ganzen Jahre nicht in der Schule war. Sie sagte aber, sie könne sich in der Schule nicht mehr konzentrieren, weil sie diese schrecklichen Bilder im Kopf hätte. Sie wollte gerne für andere Überlebende einen Shop für Damenbekleidung eröffnen. Da haben wir ihr ein Starterkit besorgt, ein Ladenlokal plus Klamotten. Und da treffe ich Serhap ein Jahr später und vor mir sitzt eine selbstbewusste junge Frau, die mir aufrecht in die Augen schaut, lacht und was zu tun hat. Jetzt ist ihre Schwester noch dabei. Und das macht mich natürlich auch glücklich. Da merkst du punktuell kannst du immer wieder was erreichen.
Was magst du am Ruhrgebiet? Gibt es etwas was du gar nicht magst?
Ich mag eigentlich alles. Ich wohne beispielsweise in Essen-Kray. Wir haben eine sehr bunte Nachbarschaft, wo viele Kulturen zusammenkommen. Das mag ich sehr. Ich mag die direkte Art der Leute. Essen ist auch als Stadt nicht schlecht. Gerade die Ecke bei uns ist sehr grün. Da hast du noch viele Gebäude aus Gründerzeiten. Das ist eigentlich ganz schön, auch wenn es ein ziemlich runtergerockter Stadtteil ist. Aber da fühle ich mich wohl. Da ist nicht Schicki-Micki, was ich sowieso nicht leiden kann. Es ist nicht so diese Stiff-Upper-Lip-Hauptstadtattitüde. Es ist das Ruhrgebiet und das finde ich ganz gut.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?
Wie heißt denn diese schwarze Ente? Daffy Duck! Der hat immer Pech, der kriegt immer einen drüber gebraten.
Aber hast du immer Pech?
Ne, eigentlich nicht. Der ist mir aber ganz sympathisch, weil der immer Pech hat und trotzdem weitermacht.
Das Interview führten wir im Mai 2022.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.