Dagny Holle‐Lee aus Essen
„Es geht mir nicht um Geld oder Prestige. Es hilft mir sehr, dass der Kern meiner Arbeit etwas Gutes ist.“
Hallo Frau Holle‐Lee, stellen Sie sich bitte kurz vor!
Ich heiße Dagny Holle‐Lee, komme ursprünglich aus Wiesbaden und bin zum Arbeiten nach Essen gezogen. Ich bin seit fünf Jahren Oberärztin in der Klinik für Neurologie der Essener Universitätsklinik und seit drei Jahren Leiterin des dortigen Westdeutschen Kopfschmerz- und Schwindel‐Zentrums. Außerdem bin ich Mutter, mein Sohn ist vier Jahre alt.
Woher kommt Ihr Name?
Dagny ist ein norwegischer Name und bedeutet ,neuer Tag‘. In nordischen Ländern heißen eher ältere Frauen so. Aber meine Eltern mochten den Namen einfach und ich finde ihn auch schön. Der Doppelname stammt vom Vater meines Sohnes – er hat taiwanesische Wurzeln, daher das Lee.
Haben Sie ihn in Taiwan kennengelernt?
Nein, wir sind uns in Deutschland begegnet, aber später haben wir gemeinsam seine Familie in Taiwan besucht. Ich fühlte mich am Anfang wie im Film „Lost in Translation“ und habe einen richtigen Kulturschock gehabt. Wenn man plötzlich nichts mehr versteht, nichts mehr lesen, nicht alleine Bus fahren kann – das ist wirklich verrückt. Da wurde mir erst mal klar, wie festgefahren wir alle in unserem Denken sind – was wir als normal empfinden, was wir aus dem Alltag kennen und was nicht. Diese Erfahrung hat meinen Horizont erweitert.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn man als Europäerin unter Taiwanesen ist, erscheinen einem die optischen Unterschiede zwischen den Menschen erst einmal nicht sehr groß. Man hat ja sein Leben lang fast immer nur Europäer gesehen! Doch wenn man sich erst einmal eingeguckt hat, sieht man plötzlich doch die Individualitäten. Das war eine sehr schöne Erfahrung.
Zu merken, dass das Gehirn dazulernt?
Ja, das war spannend. Es gibt ein neurologisches Krankheitsbild – Prosopagnosie: Wer das hat, erkennt Gesichter nicht gut. Diese Menschen grüßen ihre Bekannten manchmal nicht, manche erkennen sogar ihren Partner nicht. So ähnlich war es für mich in Taiwan – ich wusste zu Anfang manchmal nicht, ob ich einer Person schon begegnet war oder mich neu vorstellen muss. Aber es wurde dann mit der Zeit immer einfacher.
Sie sind Neurologin und zertifizierte Kopfschmerzexpertin. Warum interessiert Sie das Thema Kopfschmerzen?
Zum einen hab ich selbst oft Kopfschmerzen. Ich habe also einen guten Zugang, weil ich nachempfinden kann, wie es Betroffenen geht. Mein ehemaliger Chef hat das Westdeutsche Kopfschmerzzentrum gegründet, das größte Versorgungszentrum für Kopfschmerzen in Deutschland. Als ich dort zu arbeiten anfing, habe ich gemerkt, dass die Arbeit für mich sehr erfüllend ist: Kopfschmerzpatienten leiden sehr, sind aber körperlich meistens gesund. Man kann ihnen mit ihren Beschwerden oft gut helfen und ihre Lebensqualität verbessern. Mir gefällt auch die Abwechslung im Umgang mit Menschen: Kopfschmerz gibt es in jeder Lebensphase, ich arbeite mit alten Menschen genauso wie mit kleinen Kindern.
Ab wann sind Kopfschmerzen nicht mehr normal?
So richtig normale Kopfschmerzen gibt es nicht. Aber es gibt natürlich sehr unterschiedliche Arten von Kopfschmerzen. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass Kopfschmerzen insbesondere die Migräne oft nicht einfach „nur“ Schmerzen sind – es gibt eine Reihe von Beschwerden drum herum. Kopfschmerzen kommen oft im Paket mit Konzentrationsstörungen oder auch depressiven Stimmungslagen. Wenn ich selbst Migräne habe, fallen mir zum Beispiel Namen nicht mehr ein. Meine Kolleginnen wissen immer schon, was Sache ist, wenn ich Patientennamen plötzlich nicht mehr nennen kann. Für Kopfschmerzpatienten kann diese Erfahrung quälend sein: Wenn ihre Konzentration oder auch ihre Wahrnehmung beeinträchtigt sind, stößt das bei der Umwelt häufig auf großes Unverständnis.
Wie ist das bei Schwindel?
Bei Schwindel entwickeln Patienten schnell große Ängste. Sie haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren und geraten in Panik. Das ist interessant zu beobachten, denn von außen betrachtet haben diese Patienten oftmals gar nichts Schlimmes. Aber sie denken: Wer weiß, was passiert, wenn ich jetzt umkippe? Wenn man das laufen lässt, wird es immer schlimmer. Wenn man dagegen früh interveniert und die Beschwerden und auch die Ängste behandelt, sind viele dieser Menschen nach einigen Wochen wieder gesund oder können zumindest besser mit den Symptomen umgehen.
Haben Sie Tipps für Alltagskopfschmerzen?
Den Klassiker: genug trinken! Außerdem helfen Sport, vor allem Ausdauersport, Entspannung und die richtige Menge Schlaf – nicht zu viel und nicht zu wenig. Die meisten Menschen kennen ihren eigenen gesunden Rhythmus selbst ganz gut.
Manche Menschen leiden unter Kopfschmerzen, wo das allein nicht hilft. Kopfschmerzen, die wirklich beeinträchtigen und immer wieder kommen, sind oft eine Migräne. Das ist nicht jedem klar. Gegen Migräne gibt es gute und wirksame Medikamente. Aber auch bei Migränepatienten können regelmäßiger Sport und Schlaf aber auch schon viel bewirken.
Welchen Sport empfehlen Sie?
Sport, der einem Spaß macht und den man auch auf längere Sicht durchhält! Es geht vor allem darum, dass man den Sport regelmäßig macht und in den Alltag integriert. Alles ist besser als nichts. Sport ist generell sehr positiv: Er hilft gegen Depressionen, gegen Demenz und eben auch bei Kopfschmerzen. Sport führt zu einer besseren Tagesstruktur, man schläft besser, das hängt alles zusammen. Super an Sport finde ich außerdem, dass man selbst etwas tun kann. Man macht sich nicht davon abhängig, dass eine Tablette wirkt.
Hatten Sie mal einen außergewöhnlichen Patienten oder eine Patientin?
Es gibt fast jede Woche jemanden, dessen Geschichte mich berührt! Ich habe letzte Woche eine Patientin in der Sprechstunde gesehen, die immer wieder einschießende, elektrisierende Schmerzen erlebte, zum Beispiel beim Kauen oder bei Berührungen der Haut. Menschen wie sie leiden so sehr, dass sie manchmal nicht mehr leben wollen. Diese ältere Frau hat mir letzte Woche nach Beginn einer Schmerztherapie erzählt, dass die Berührung ihrer Haut für sie zum ersten Mal seit Monaten nicht schmerzhaft ist – dass ihre kleinen Enkelkinder ihr jetzt einen Kuss geben können. Ein anderer Patient sagte mir, nach Beginn der Schmerztherapie, es gehe ihm endlich wieder gut genug, dass er in den Urlaub fahren kann. So etwas ist einfach wunderschön – in gewisser Weise arbeite ich für diese Erlebnisse.
Werden Sie angerufen, wenn im Freundeskreis irgendwer Kopfschmerzen hat?
Ständig! Im Klinikum fragen mich auch die Kollegen. Ist ja klar, bei so einem Alltagsleiden. Das ist aber völlig in Ordnung für mich.
Wie gehen Sie selbst mit Kopfschmerzen um?
Ich mache Sport, meistens Fitness und Zirkeltraining mit Hilfe von Apps. Das kann ich zu Hause machen, was sehr praktisch ist, da ich ja auch einen kleinen Sohn habe. Und ich achte drauf, in meinem Schlafrhythmus zu bleiben. Ich bin mir selbst aber manchmal eine schlechte Patientin und höre nicht auf mich. Bis Weihnachten habe ich zum Beispiel sehr viel gearbeitet und am ersten freien Tag erstmal 16 Stunden geschlafen, weil ich so geschafft war. Danach hatte ich tagelang Kopfschmerzen. Kopfschmerz-Tabletten nehme ich aber selten, weil mir normalerweise auch Sport und gesunder Schlaf gut helfen.
Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht Ärztin geworden wären?
Ich kann mir nichts anderes vorstellen und würde genau das wieder machen. Ich finde es toll, etwas zu tun, was in sich einen Sinn hat. Es geht mir nicht um Geld oder Prestige, sondern manchmal zum Beispiel einfach darum, dass ein Patient an diesem Tag keine Kopfschmerzen hat. Es hilft mir sehr in meinem Alltag, dass der Kern meiner Arbeit etwas Gutes ist, auch wenn mir mal schlechte Laune oder strukturelle Probleme dazwischenfunken und man natürlich leider nicht jedem Patienten helfen kann.
Wie kamen Sie auf Ihren Beruf?
Ich komme aus einer Ärztefamilie, insofern war das keine sehr originelle Idee! Die Fachrichtung war aber nicht festgelegt. Beim Auslosen der Plätze für das praktische Jahr während des Medizinstudiums habe ich mein Wahlfach nicht bekommen, das wäre der Ausbildungsweg zur Kinderärztin gewesen. Eine meiner besten Freundinnen hatte einen Platz in einer kleinen Neurologie in Andernach, die sehr patientenzentriert und familiär war. Dafür habe ich mich dann auch entschieden, und diese Praxisphase hat mir so gut gefallen, dass ich danach wusste, dass ich Neurologin werden will.
Haben Sie neben Arbeit und Familie Zeit für Hobbys?
Ich spiele Feldhockey und ich lese sehr gerne.
Haben Sie ein Lieblingsbuch?
Mehrere – ich mag die Bücher von Haruki Murakami, Paul Auster, Siri Hustvedt oder Oliver Sacks. Aktuell lese ich den Roman „Deine kalten Hände“ von Han Kang, einer koreanischen Autorin. Darin verschwindet ein Bildhauer spurlos und hinterlässt Abdrücke von Händen und Körpern. Das ist das beeindruckendste Buch, das ich seit langer Zeit gelesen habe. Man wird davon völlig gefangen genommen und erlebt alles ganz nah mit. Ich finde die Geschichte und die Erzählweise sehr berührend.
Sie waren während des Studiums unter anderem in Jerusalem. Was haben Sie von dort mitgebracht?
In Jerusalem war ich 2006 für eine Praxisphase in der Chirurgie. Durch die Auslandserfahrung ich gelernt, was für ein Luxus unsere Sicherheit hier ist. Dort habe ich abends überlegt: Will ich wirklich mit dem Bus zu diesem Fest fahren? Ist es mir das Risiko wert? Die Gefahr war gering, dass im Bus eine Tasche explodiert, aber sie war da. Als ich zurück war, habe ich lange gebraucht, um dieses Denken wieder loszuwerden. Wobei sich ja leider auch in Europa die Sicherheitssituation grundlegend geändert hat.
Studiert haben Sie außerdem in Boston.
2004 war ich insgesamt neun Monate in den USA. In Boston habe ich zum ersten Mal im Leben einen richtigen Winter erlebt, mit Minus 25 bis 30 Grad. Bei Null Grad habe ich dann schon die Winterjacke weggepackt, das war im Vergleich richtig warm!
Wie gefällt Ihnen das Ruhrgebiet?
Ursprünglich komme ich aus Wiesbaden, das ist eine unglaublich schöne Stadt. Ich hatte durchaus Vorbehalte, als ich hierherzog und in Essen anfing zu arbeiten. Mit Herbert Grönemeyers Song „Bochum“ habe ich mich auf die Situation hier eingestellt. Aber dann war ich überrascht, denn Essen mochte ich direkt sehr! Ich mag den Baldeneysee und das lebendige Rüttenscheid. Und die Menschen sind toll – sie sind offen und heißen Neulinge willkommen. Gut gefällt mir außerdem die Weltoffenheit und das Multikulturelle. Ich habe ein asiatisch aussehendes Kind, das fällt auf. Aber wenn jemand ein bisschen anders aussieht, ist das hier gar kein Problem.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wären Sie?
Schwierige Frage. Vielleicht einer von den Schlümpfen, tagesabhängig Schlumpfine, Clumsy, Schlaubi oder Fauli.
Das Interview führten wir im Juni 2019.
Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.