Linn Grewer aus Essen
„Die Kinder wissen nicht, dass die Plastikfolie nicht zur Gurke dazugehört.“
Hallo Linn, stell dich bitte kurz vor!
Ich bin Linn Grewer, 24 Jahre alt, komme ursprünglich aus Gelsenkirchen und wohne nach Stationen in Berlin, Spanien, Holland und Neuseeland seit anderthalb Jahren in Essen. Ich studiere Lehramt und habe hier in Essen den Verein SpringinsFeld e.V. gegründet. Ich baue zusammen mit Kindern Gärten an Schulen. Es geht dabei um gesunde Ernährung und darum, zu verstehen, wo unser Essen eigentlich herkommt. Viele Kinder wissen das nicht.
Welche Fächer studierst du?
Zuerst habe ich in Holland „International Food und Agri Business“ studiert, also Ernährungs- und Agrarwirtschaft. Doch dann habe ich mich doch für die Lehrerausbildung entschieden, mit den Fächern Englisch und Sozialwissenschaft.
Durch SpringinsFeld e.V. bleiben Ernährung und Agrarwirtschaft Teil deines Lebens. Wie kamst du auf die Idee, den Verein zu gründen?
Ich habe ein Praktikum in London gemacht, bei der Organisation „School Food Matters“, die sehr ähnlich arbeitet wie ich jetzt mit dem Verein. Ich habe während des Praktikums festgestellt, wie wenig Ahnung die Kinder haben. Sie wissen nicht, dass die Plastikfolie nicht zur Gurke dazugehört. Oder, dass Pommes aus Kartoffeln gemacht werden. Solche vermeintlichen Extrembeispiele sind in Schulen Alltag. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. So ist Ernährung eine Herzensangelegenheit für mich geworden. Es gibt sehr viele Kinder, die keine Chance haben, zu Hause etwas über Ernährung zu lernen – für die muss die Schule das aufgreifen.
Wie findest du die Schulen, an denen du die Gartenprojekte machst?
Meistens rufen sie mich an. Meine Mutter ist Lehrerin, so hat es hat sich schnell herumgesprochen, dass man mich anfragen kann. Die Schulen kostet es nichts, wenn ich komme, denn der Verein ist komplett spendenbasiert. Anders hätte es kaum funktioniert, denn die Schulen in Deutschland haben kein Geld, schon gar nicht für sowas. Die Schulen haben mir zu Beginn echt die Bude eingerannt, da war ich anfangs erst mal ganz schön überfordert, denn bisher mache ich die ganze Arbeit alleine. Noch ist nicht genug Geld da, damit ich jemanden anstellen kann. Sowas dauert einfach etwas.
Was machst du genau mit den Schülern?
Wir bauen gemeinsam Hochbeete, die sind zum Zeigen von Dingen praktischer als Bodenbeete. Den ersten Garten haben wir an der Gesamtschule in Essen-Holsterhausen gebaut. Dort flogen alte Paletten auf dem Schulhof herum, die konnten wir direkt verwenden. Dann habe ich zufällig einen Gärtner kennengelernt, der uns Erde geschenkt hat, weil er das Projekt toll fand. Das Saatgut spendet die Biomarke demeter dem Verein. So musste ich bisher kaum Geld ausgeben.
Was baust du mit den Kindern an?
Alles, was ich an Saatgut bekommen kann. Ich bekomme die Saat aus zweiter Hand von demeter, da ist alles dabei, was nicht mehr verkauft werden kann. Die Saat ist aber völlig in Ordnung, da geht dann vielleicht nur jeder dritte Samen auf. Darunter sind Tomaten, Paprika, Kohlrabi und Kartoffeln. Und Kapuzinerkresse! Die wächst wie irre, sieht super aus und ist essbar.
Das klingt, als wärst du bisher sehr zufrieden?
Alles hat wunderbar funktioniert! Ich habe bisher an drei Schulen je drei bis vier Beete angelegt. Zur Sicherheit hatte ich zu Hause einige Pflanzen vorgezogen, für Notfälle, falls in den Beeten nichts wächst. Aber es hat alles prima geklappt. Das alles wachsen zu sehen, hat den Kindern richtig viel Spaß gemacht. Jetzt wissen sie zum Beispiel, dass eine Kohlrabi nicht unter der Erde wächst. Ich glaube, dieses Wissen und die guten Erfahrungen nehmen die Kinder für ihr Leben mit.
Sind die Kinder denn immer gleich Feuer und Flamme?
An einer Sonderschule in Werden habe ich eine spannende Erfahrung gemacht: Die Schüler hatten am Anfang überhaupt keine Lust und wollten ihre Finger nicht dreckig machen. Doch dann sind sie irgendwann aufgetaut und fanden es zum Schluss richtig toll. Die Kinder sind im Sommer in ihrer Freizeit zur Schule gefahren, um die Beete zu gießen, damit sie nicht vertrocknen. Das war einfach total schön zu sehen.
Du arbeitest also alleine an den Projekten. Muss man für eine Vereinsgründung nicht mindestens zu dritt sein?
Ja, deshalb habe ich sechs Freunde überzeugt, mit mir den Verein zu gründen. Dann mussten wir die Gemeinnützigkeit nachweisen, das hat ewig gedauert. Jetzt ist aber alles geregelt. Ab dem nächsten Jahr geht‘s dadurch hoffentlich noch besser weiter. Denn wenn ein Verein gemeinnützig ist, darf man Spendenquittungen ausstellen. Das führt dazu, dass mehr gespendet wird und dann kann ich auch an Unternehmen herantreten.
Deine Mutter ist also Lehrerin. Was macht dein Vater?
Mein Papa ist Clown. Er ist früher mit dem Zirkus rumgereist und ist in Straßentheatern und Varietés aufgetreten. Er kommt aus Berlin und hat meine Mutter in Gelsenkirchen kennengelernt. Doch meine Eltern sind inzwischen schon lange getrennt. Heute lebt mein Vater auf einem Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern und arbeitet nicht mehr als Clown. Die Branche läuft überhaupt nicht mehr, seit es Youtube und Co. gibt. Früher hat mein Vater auf Kindergeburtstagen und auf Messen viel Geld verdient. Zum Beispiel auf der Hundemesse in Dortmund, denn er ist immer mit Hunden aufgetreten. Irgendwann wurde das Entertainment dort aber komplett gestrichen. Mein Vater ist jetzt 60 und kann sich nur noch so gerade eben über Wasser halten.
Immer noch als Clown?
Ja, aber nicht mehr sehr viel. Es läuft schlecht in der Branche. Er ist eigentlich gelernter Tischler und arbeitet heute wieder in dem Bereich. So wurde er auch Clown: Er hatte einen Job als Tischler beim Zirkus, hatte zwischendurch aber immer massenhaft Zeit. Als Tischler war er nie besonders gut, er hat oft Sachen ein bisschen zu groß oder zu klein oder schief gebaut. Beim Zirkus hat er dann zwischendurch angefangen, zu jonglieren, die ganzen Requisiten dort zu benutzen und mit seinem Hund Tricks zu üben. Als der Clown dann irgendwann mal krank war, ist er eingesprungen.
Wie war die Trennung deiner Eltern für dich?
Das war traumatisch für mich. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich 14 war. Meine Eltern haben im Zuge der Scheidung richtig Krieg miteinander geführt und es auch nicht geschafft, meine jüngere Schwester und mich da rauszuhalten. Mein Vater hat heute eine neue Frau, die auf mich und meine Schwester nie Bock hatte. Das alles war schlimm für mich. Ich war als Kind sehr sensibel und habe in der Schule viel Mobbing erlebt. Dann noch die Scheidung – ich bekam Haarausfall, weil ich den Stress nicht mehr ausgehalten habe. Mein Vater hat das aber gesehen und mich zur Therapie mitgenommen.
Du hast Mobbing erlebt?
Ja, das war echt extrem. Inzwischen ist das aber aufgearbeitet und ich habe keine Probleme mehr, darüber zu reden. Ich war auf mehreren Schulen, erst auf dem normalen Gymnasium, dann auf einer Waldorfschule in Gladbeck. Meine Mitschüler dort waren ein Riesenproblem. Die Lehrer reden heute noch über diese Klasse. Es gab dort zwei Jungs, Zwillingsbrüder, von denen eine unglaubliche Energie ausgegangen ist. Die haben ständig nur Stress und Streit verursacht.
Warum bist ausgerechnet du zum Opfer geworden?
Ich denke, es lag daran, dass ich einfach anders aussah als die anderen. Ich habe schon früh meinen Sidecut getragen und hatte die Haare blondiert. Ich bin auch irgendwann in so eine Rolle gefallen und habe mich selbst zum Opfer gemacht. Wenn du selbst glaubst, dass du nichts wert bist und schon erwartest, dass dich keiner mag, dann wird das irgendwann ein Selbstläufer.
Wann wurde es besser?
Als ich in die Jugendtheatergruppe des Essener Grillo-Theaters eingestiegen bin. Das war das erste Mal, dass ich in einer Umgebung war, wo ich reingepasst habe. Alle waren da so wunderbar bescheuert, dass es kein Problem war, wie ich war oder aussah. Da habe ich gemerkt, dass ich gar nicht so falsch war. Das hat mir sehr viel Mut gegeben. Mit 17 bin ich nach Berlin gegangen. Mein Vater ist dorthin gezogen und ich wollte mit. Dort war ich wieder auf einer Waldorfschule, das Mobbing hat dort endlich aufgehört. Die neue Klasse war toll. Ich habe 2014 Abitur gemacht und wir hatten seitdem schon drei Klassentreffen, weil wir alle noch gut befreundet sind. Berlin ist meine zweite Heimat.
Heute studierst du Lehramt – weil du etwas besser machen willst?
Schon irgendwie. Aber ich habe erst vor einem halben Jahr entschieden, dass ich Lehrerin werde. Früher konnte ich mir das nie vorstellen. Ich hatte immer das Bild, dass Lehrer langweilig und spießig, eben Beamte sind. Meine Mutter ist eine tolle Frau, aber sie führt ein sehr bodenständiges Leben, das ich immer ein bisschen langweilig fand. Ich wollte lieber wie mein Vater sein, vielleicht Schauspielerin werden. Aber jetzt, wo ich mitbekomme, dass mein Vater von seinem Job nicht mehr leben kann und meine Mutter gleichzeitig mehrmals im Jahr in den Urlaub fährt, sehe ich das alles ein bisschen anders. Ich will immer noch nicht verbeamtete Lehrerin sein – also so viel Sicherheit, dass ich mich nicht mehr frei bewegen kann. Irgendein gutes Mittelmaß wäre das Richtige für mich.
Spielt Religion in deinem Leben eine Rolle?
Christliche Religion nicht. Ich war auf einer katholischen Grundschule und habe es gehasst. Vor allem das Knien in der Messe! Aber ich habe ein bisschen was mit Buddhismus am Hut. Ich war nach dem Abi für neun Monate in Neuseeland und habe drei davon in einem buddhistischen Zentrum als Köchin gearbeitet. Das hat mir gut gefallen.
Wie hast du die anderen sechs Monate dort verbracht?
Mein damaliger Freund hat mich ein paar Wochen besucht, ansonsten war ich alleine unterwegs. Das war mir wichtig. Ich habe alleine das Land bereist, bin per Anhalter gefahren und gewandert. Ich habe beim Trampen nur Glück gehabt – das geht sehr gut in Neuseeland, alle halten sofort an und sind sehr nett.
Wäre Neuseeland für dich ein Ort zum Leben?
Nee. Zu weit weg. Und für mich auch ein bisschen zu gechillt. Ich gebe mal ein Beispiel: Wenn du ein Auto mieten willst, musst du beim Verleih erst mal Stunden warten. Da lässt sich keiner hetzen. Aber wenn du es zurückgibst, kannst du auch fünf Stunden zu spät kommen, das ist kein Problem und keiner kontrolliert, ob Kratzer im Lack sind. Diese Entspanntheit hat also auf jeden Fall zwei Seiten. Aber für mich wäre Neuseeland im Moment nicht das Richtige, auch beruflich gesehen.
Du hast gesagt, du warst auch in Spanien. Was hast du da gemacht?
Mit 19 war ich als Au-pair in Bilbao, für sechs Monate. Ich war in zwei Familien, und in beiden ist es leider nicht optimal gelaufen. In der ersten hatte ich kaum etwas zu tun, die Mutter wollte sich eigentlich allein um ihr Kind kümmern. Trotzdem hatte sie ständig was zu meckern. An einem Tag hat sie mich so zur Sau gemacht, dass ich heulend vor ihr saß und danach beschlossen habe, mir eine neue Familie zu suchen. Ich habe zum Glück schnell was gefunden und wollte mit der alten Familie eine gute Lösung für den Wechsel vereinbaren, aber die Mutter hat mich einfach direkt rausgeschmissen. Innerhalb von zehn Minuten stand ich auf der Straße, alles nur schnell in die Koffer gestopft.
Und in der zweiten Familie lief es dann auch nicht besser?
Doch schon, die neue Familie war sehr nett. Die haben auch nicht verstanden, wie man jemanden so behandeln kann. Aber leider habe bin ich dort einfach nicht an die Tochter herangekommen. Das war ein zehnjähriges Mädchen mit Epilepsie, das oft Wutanfälle hatte. Es hat einfach nicht geklappt zwischen uns, obwohl ich eigentlich echt gut mit Kindern kann. Das Mädchen hat mich irgendwann mit einem Messer bedroht, als sie ihren Orangensaft trinken sollte. Da hab ich gedacht, das reicht jetzt, und bin nach Hause gefahren.
Wie kommt es, dass du jetzt wieder in Essen wohnst? Was magst du am Ruhrgebiet?
Lange mochte ich das Ruhrgebiet überhaupt nicht, das war schon als Kind so, obwohl ich in Gelsenkirchen-Horst schön im Grünen aufgewachsen bin. Bis vor zwei Jahren wollte ich nicht zurück, bin dann aber wegen meiner damaligen Beziehung wieder hergekommen. Und dann habe ich mich plötzlich ins Ruhrgebiet verliebt. Ich mag sehr, dass es so wahnsinnig grün ist, ich gehe zum Beispiel gerne mit meinem Hund im Wald und in Werden spazieren. Ich mag auch die Leute: Die offene, ehrliche Art, einfach frei Schnauze. Und ich habe inzwischen meinen Kiez hier im Südviertel, wo es nicht so überlaufen ist wie in Berlin. Ich treffe immer wieder Leute, die ich kenne, aber es hat auch eine gewisse Anonymität – eine sehr gute Mischung.
Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du?
Ich wäre Moana, aus dem gleichnamigen Disneyfilm von 2016 (deutscher Titel Vaiana, Anm. d. Red.). Der Film spielt in Neuseeland.
