Sandra Lachmann aus Essen

„Ich bin kein Mauerblümchen mehr. Aber das war ein harter, steiniger Weg dahin.“

Hallo Sandra. Stell dich doch bitte kurz vor.

Ich bin Sandra Lachmann, 45 Jahre alt und komme aus Essen. Ich arbeite momentan im Landgericht in der Kantine als Kassiererin. Da habe ich gerade ganz frisch angefangen und es macht mir super viel Spaß. Ich habe drei erwachsene Kinder: 18, 19 und 22 Jahre alt. Seit 32 Jahren bin ich mit meinem Mann Jens zusammen – seitdem wir 13 Jahre alt waren.

Was machst du in deiner Freizeit?

Ich engagiere mich ehrenamtlich bei der S.A.T.Tiertafel Essen e. V.. Eigentlich wollte ich da nur ab und zu aushelfen, da die Schule bei meinen Kindern beendet ist. Da war ich jahrelang im Förderverein tätig und hatte jetzt eben wieder Luft für Neues. Ich bin aber dann zur ersten Vorsitzenden der S.A.T.Tiertafel Essen e. V. gewählt worden. Das Büro ist zuhause in Heisingen und die Ausgabe haben wir in der Essener Innenstadt in der Wiederbrauchbar an der Kreuzeskirche. Die mieten wir einmal im Monat an, schleppen das Futter aus dem Lager in Steele dahin – 800 Kilo meistens – und starten dann da die Ausgabe an Bedürftige, die nicht genug Geld haben, um ihre Tiere zu versorgen.

Wer gilt als bedürftig?

Das sind Hartz-4-Empfänger, Rentner und Arbeitslosengeld-2-Empfänger. Eigentlich alle, die unterm Satz leben. Unsere Gäste müssen ihren Bescheid vorlegen, den wir kopieren und abheften, damit wir dem Finanzamt nachweisen können, dass diese Menschen bedürftig sind. Sie bekommen dann Futter für den Rest des Monats von uns. Da wir die Futterausgabe jeweils am dritten Montag und Mittwoch im Monat haben, ist das Futter für ca. 1,5 bis 2 Wochen. Wichtig ist dabei, dass es nicht darum geht, dass die Menschen sich neue Tiere durch unsere Unterstützung zulegen können, sondern, dass sie ihre vorhandenen Tiere behalten können.

Was sind das so für Menschen?

Wir haben einen Fall, da hat eine ältere Dame kein Geld, um ihrer 18-jährigen Katze spezielles Nierenfutter zu kaufen. Sie hatte sich schon wochenlang von trockenen Nudeln ernährt, damit sie das Futter für ihre Katze bezahlen konnte. Sie wäre das noch gewohnt vom Krieg, hat sie uns erzählt. Da springen wir dann ein und helfen.

Unterstützt ihr auch bei Tierarztkosten?

Tierarztkosten würden wir natürlich auch gerne übernehmen, aber dafür reichen unsere finanziellen Mittel nicht aus.

Spendet man direkt Futter oder Geldbeträge?

Wir bekommen Geldspenden sowie auch Futterspenden. Wir müssen monatlich an die 300 Euro für Katzenfutter ausgeben, weil die Futterspenden leider nicht ausreichen.

Wie viele Tiere versorgt ihr?

Wir haben momentan in unserer Kartei ca. 180 Personen mit knapp 419 Tieren: Hunde, Katzen, Vögel und Nagetiere. Wir unterstützen allerdings nicht mehr als fünf Tiere pro Person. Wir müssen ja auch aufpassen, dass unsere Hilfe nicht ausgenutzt wird. Es gibt teilweise Anrufe, wo die Leute sagen „Hey, wir wollen uns ein Tier anschaffen. Ihr unterstützt uns doch da, oder?“ Sowas geht natürlich nicht.

Wo kann man spenden?

Für die Futterspenden haben wir einige Sammelstellen in Essen, wo man Futter abgeben kann. Zum Beispiel in Rüttenscheid bei Brecki´s Damenmode, im Getränkemarkt Schwarze in Steele oder beim Fressnapf in Altenessen. Das sind Wäschekisten mit unserem Logo drauf. Diese abschließbaren Boxen, die das Tierheim oft aufstellt, können wir uns leider nicht leisten. Die wären natürlich ideal.

Und die Futterausgabe ist nur in der Innenstadt?

Bald haben wir eine zweite Ausgabestelle direkt beim Getränkemarkt Schwarze in Steele. Da haben wir ja auch unser Lager. Es ist einfach sehr mühsam, immer die 800 Kilogramm Futter bis in die Innenstadt zu bringen.

Ausgabe ist immer am dritten Montag und am dritten Mittwoch im Monat. Wir fangen immer so um 16:30 Uhr an und sind so ab 14:30 Uhr da. Da stehen dann schon die ersten vor der Tür und warten. Es kommen sogar Leute aus Velbert bis zu uns.

Hast du auch eigene Haustiere?

Ich habe einen 18-jährigen Kater namens Tom, eine Bartagame, die Luzi heißt und einen Hund: Polly. Polly habe ich damals auf Facebook entdeckt. Sie sollte abgegeben werden und ich bin einfach mal hingefahren. Polly hat mich die ganze Zeit nur angebellt. Die Frau, bei der sie war, meinte irgendwann zu mir: „Komm, 25 Euro. Nimm mit.“. Sie hat einen Vertrag aufgesetzt und ich habe Polly kurzerhand mitgenommen. Seltsamerweise hatte sie keine Papiere für den Hund.

Warum nicht?

Es stellte sich später heraus, dass Polly eigentlich nur zur Pflege bei dieser Frau war und die eigentliche Besitzerin im Ausland war. Ich hätte sie also gar nicht bekommen dürfen! Polly war in keinem sehr guten Zustand. Die Haare waren total verfilzt. Der Hundefriseur hat eine Stunde lang nur an den Ohren geschnitten. Die Haare gingen fast bis zum Boden.

Du hast also Polly mit nach Hause genommen. Was hat dein Mann dazu gesagt?

Wir wollten ja nie einen Hund haben. Ich kam also nach Hause, weckte meinen Mann, der zur Nachtschicht musste, und sagte ihm: „Jens, wir haben gleich unseren ersten Ehestreit!“ Er war ziemlich muffig und hat erst mal nicht mit mir geredet. Am nächsten Tag musste ich kurz weg und habe Jens mit Polly alleine gelassen. Als ich nach Hause kam, haben beide miteinander gespielt und das Eis war gebrochen.

Was war dann mit der eigentlichen Besitzerin von Polly? Wollte sie nicht ihren Hund zurückhaben?

Die erste Besitzerin von Polly habe ich daraufhin angeschrieben. Sie war schon drauf und dran, die Polizei einzuschalten, weil sich ihre Hundepflegestelle einfach nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Wir haben dann aber geklärt, dass Polly von nun an bei uns bleiben konnte. Die Besitzerin ist nämlich beruflich nach London gezogen und war froh, dass es Polly jetzt gut ging.

Neben der Tiertafel engagierst du dich auch noch bei „Essen packt an“, richtig?

Die S.A.T.Tiertafel Essen e. V. ist damals sogar durch eine Aktion von „Essen packt an“ entstanden. Es gab im letzten Jahr einen Brand in Essen-Frohnhausen, bei dem ein Fachwerkhaus abgebrannt ist. Da waren auch Hunde von betroffen. Als wir dann geholfen hatten und ein halber Sack Hundefutter übrig blieb, kamen wir auf die Idee, eine Hundetafel zu gründen und das restliche Futter an Bedürftige zu verteilen.

Bei „Essen packt an“ engagiere ich mich immer mal, wenn ich die Zeit finde. Wir haben vor Kurzem einen Wellnesstag für Obdachlose veranstaltet. Das war total klasse. Es waren knapp 30 Obdachlose da, die sich die Haare haben schneiden lassen und Pediküre und Maniküre bekommen haben.

Was war deine Aufgabe dabei?

Ich habe eine Friseurausbildung und war für das Haarstyling zuständig. Einem Obdachlosen sind die Freudentränen runtergelaufen, als ich ihm die Haare gewaschen habe, weil er schon ewig keine Kopfmassage mehr bekommen hatte. Dem habe ich dann dreimal den Kopf gewaschen, weil er das so toll fand. Das war ein beeindruckendes Erlebnis. Wir wiederholen das am 12. August noch mal.

Hast du noch weitere Hobbies?

Mein anderes Hobby ist der Mittelaltermarkt. Da fahren wir schon seit 20 Jahren hin. Damals immer nur nach Telgte mit den Kindern. Irgendwann sind wir dann auf die „Totentänzer“ getroffen. Das ist der Fanclub der Band Saltatio Mortis. Seit drei Jahren zelten wir regelmäßig auf dem Mittelalterlich Phantasie Spektakulum – einem der größten Mittelaltermärkte, der von Stadt zu Stadt zieht – und fahren durch ganz Deutschland dafür. Und so verbringen wir unseren Jahresurlaub mit unserer „MPS-Familie“ oder unserer „Wahl-Familie“, wie wir sie oft nennen. Das Zusammensein mit den Freunden ist wichtiger geworden als der Markt selbst.

Verkleidet ihr euch auch und zieht euch mittelalterlich an?

Vor drei Jahren haben wir damit angefangen, gewandet auf die Märkte zu gehen – das heißt, mit mittelalterlicher Kleidung. Oft stellen wir das selbst zusammen. Es kommt immer wieder was dazu. Mein Mann trägt ein selbstgemachtes Kettenhemd und auch nachgemachte Waffen.

Wie würdest du dich beschreiben?

Dahin zu kommen, wo ich jetzt bin, war ein sehr langer Weg für mich. Früher war ich total schüchtern und habe nie einen Ton herausgebracht – ein Mauerblümchen.

Ich habe ganz viel gekämpft, dass ich jetzt da stehe, wo ich bin. Früher habe ich oft zu hören gekriegt „Du kannst nichts“ oder „Lass das lieber“. Das hat mich meine ganze Schulzeit begleitet, sei es in der Schule oder auch privat zuhause. Ich hatte einen blöden Lehrer, der mich immer mit Musterschülern verglichen hat. Ich musste damals einfach immer viel büffeln, um mit denen mithalten zu können.

Aber jetzt hat sich deine Einstellung geändert?

Ich glaube, seit ungefähr vier Jahren habe ich meinen persönlichen Durchbruch geschafft. Ich komme immer mehr aus mir heraus und mache auch einfach mal den Mund auf und sage meine Meinung. Ich bin kein Mauerblümchen mehr. Aber das war ein harter, steiniger Weg dahin.

Was hat dein Leben in diese Richtung beeinflusst?

Das Leben prägt einen durch Ereignisse. Ich habe damals ein Kind verloren. Das ist jetzt 21 Jahre her. Es war ein Junge, er hieß Jan und ist 17 Tage nach der Geburt gestorben. Wir wissen nicht, an was er genau verstorben ist. Er hatte eine Stoffwechselkrankheit, irgendwann sind alle Organe zerfallen und die Geräte wurden abgeschaltet. Die Hautprobe, die ihm entnommen wurde, ist auf dem Weg nach Holland leider aufgetaut. So haben wir nie erfahren, an was er letztendlich gestorben ist. Meine anderen drei Kinder sind gesund und ich bin glücklich, dass ich sie habe.

Was magst du am Ruhrgebiet?

Ich wohne sehr gerne in Essen. Ich habe die Nähe zum See. Damals haben wir das Haus geerbt. Mich zieht hier nichts weg. Alles ist quasi um die Ecke: Du hast den Wald, du kannst traumhaft spazieren gehen, du hast eigentlich alles hier.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann?

Da fällt mir spontan Dumbo ein. So klein und knubbelig. Der wurde doch immer ausgelacht und geärgert – war ganz verschüchtert – bis er auf einmal entdeckt hat, dass er mit seinen großen Ohren fliegen kann. Und dann war er der Star im Zirkus. Er ist mit eigener Kraft groß rausgekommen. Irgendwie passt das.

Das Interview führten wir im Juli 2017.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.