Ernst Hofacker aus München (noch)

„Irgendwie ist mir der Pott ins Herz graviert.“

Hallo Ernst! Stell dich bitte kurz vor!

Ich heiße Ernst Hofacker, bin 60 Jahre alt, freier Journalist/Autor und wohne in München – zumindest noch. In erster Linie habe ich mich in den letzten 30 Jahren mit Popmusik, beschäftigt. In dieser Zeit habe ich bei vielen Magazinen gearbeitet, unter anderem bei der Bravo, beim Musikexpress und beim Rolling Stone. Außerdem habe ich ein paar Bücher geschrieben. Eigentlich aber bin ich ausgebildeter Diplomsozialpädagoge und habe auch einige Jahre Erfahrung in diesem Job gesammelt, das heißt, ich habe mit behinderten Kindern gearbeitet, mit renitenten Jugendlichen, und eine Zeit lang war ich in Ahlen für den Jugendschutz zuständig.

Wie bist du aufgewachsen?

Ich bin in Recklinghausen geboren und habe bis zum achten Lebensjahr in Essen gelebt. Die Verbindung nach Essen ist insofern tief, weil die Familie meines Vaters aus Werden stammt. In Kupferdreh ist mein Vater begraben.

Mein Vater hat aus dem zweiten Weltkrieg eine nicht behandelte Gelbsucht mitgebracht. Mit dieser Erkrankung hätte er mit dem Thema Alkohol sehr vorsichtig umgehen müssen. Er war zunächst Maurer, dann hat er sich über den Beruf des grafischen Zeichners hochgearbeitet zum Architekten. Damals war das noch keine geschützte Berufsbezeichnung. Er hat in den 50-ern und frühen 60-er Jahren zahlreiche Bauprojekte als Architekt im nördlichen Ruhrgebiet betreut. Hier gab es ja tierisch viel zu bauen, weil alles in Schutt und Asche lag.

Als kleiner Junge bin ich oft mit meiner Zwillingsschwester und meinem Papa im Käfer kreuz und quer durch den Ruhrpott sämtliche Baustellen abgefahren, die er kontrollieren musste. Und da wurde natürlich auf jeder Baustelle mit dem Polier und den Jungs einer getrunken – hier ein Bierchen, da ein Körnchen. Und dann hat mein alter Herr irgendwann Probleme mit der Leber bekommen und später auch mit der Bauchspeicheldrüse. Anfang der 60-er Jahre musste er sehr lange ins Krankenhaus. Meine Mutter hat es nicht geschafft, den Laden zusammenzuhalten – wir waren drei Kinder zu Hause, und es kam kein Geld mehr rein, weil mein Vater nicht mehr arbeiten konnte. Er war Freiberufler, und damals war das so, dass man freiwillig Rente „kleben“ musste – also freiwillig zahlen. Meine Mutter war dafür verantwortlich, hat das aber immer sehr nachlässig gehandelt. Am Ende jedenfalls waren wir pleite, und unsere Familie fiel als wirtschaftlich funktionierender und sozialer Apparat auseinander. Wirtschaftlich insofern, als kein Geld mehr reinkam und die Miete nicht gezahlt werden konnte; sozial insofern, als wir Kinder dann einzeln bei verschiedenen Verwandten untergebracht wurden und dort in die Schule gehen mussten. Kurz gesagt: ein Voll-Crash. 1965 kamen wir dann alle ins Kinderheim in Münster, Westfalen.

Und was hast du vom Ruhrgebiet mit in dein Leben genommen?

Eine große sentimentale Anhänglichkeit. Irgendwie ist mir der Pott ins Herz graviert und heute noch wichtig, weil ich als Kind dort prägende Erfahrungen gemacht habe. Z. B. bin ich in meine erste Bande aufgenommen worden und habe mich zum ersten Mal verliebt.

Erzähl – wer war die Glückliche?

Meine Heldin! Ich war ein kleiner Scheißer von gerade mal sechs Jahren, habe auf einem Spielplatz gespielt, und dann kamen drei Jungs – alle einen Kopp größer als ich – und haben mich verhauen, und ich wusste nicht warum. Dann plötzlich tauchte ein Mädchen auf, das noch einen Kopp größer war – ich schätze mal so 11 oder 12 Jahre alt – und die hat mich gerettet. Natürlich habe ich sie angebetet! Hach! Das war meine erste große Liebe. Sie wohnte bei uns in der Straße. Sie hatte dunkle Haare und hat mich, nachdem sie mich getröstet und die Jungs sehr resolut verjagt hatte, nach Hause gebracht. Sowas war mir in meinem kurzen Leben bis dahin nicht passiert. Das hat bis heute Eindruck hinterlassen.

Und wie war das mit der „Bande“?

Lustig war das! Ich lebte damals bei meiner Tante in Essen-Heidhausen in einem Häuschen an einem Feldweg. Da gab es nur ein Plumpsklo hinter dem Haus. Wenn ich nachts mal Pipi musste, musste ich immer raus und über den Hof gehen, wobei ich da draußen im Dunkeln immer Schiss hatte. Das Klo roch natürlich heftig, aber es lag dort ein Stapel Micky-Maus-Hefte. Die hab ich natürlich erst gelesen, bevor ich sie ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt habe. Als Kind fand ich es total spannend, wenn alle halbe Jahre der Tankwagen kam, um die Grube zu leeren.

Jedenfalls gab es schräg gegenüber von dem Haus eine alte Scheune. Da hab ich mit den Jungs aus der Nachbarschaft immer Weitpinkeln veranstaltet. Daneben gab es einen kleinen Kabuff mit einer Tür, aus der oben ein Fenster ausgeschnitten war. Ich war der Jüngste, und die Großen haben irgendwann entschieden: Wir sind jetzt eine Bande, und wir unternehmen was – Streiche spielen, Radrennen veranstalten und so weiter. Ich wollte unbedingt auch dazu gehören, musste aber zuerst eine Mutprobe bestehen. Meine Aufgabe war es, in den Kabuff zu gehen und meinen nackten Arsch aus dem kleinen Fenster zu hängen. Ich hab’s gemacht, die anderen gröhlten, und dann war ich Mitglied. Und natürlich war ich mächtig stolz.

Was verbindet dich heute noch mit dem Ruhrgebiet?

Ich bin stolzer BVBler. Bis heute. Damals, 1966, war die Saison, als sie Europapokalsieger wurden und gegen Liverpool gewonnen haben. Da habe ich auch mein erstes Sammelalbum mit den Bildern der Spieler komplett gemacht. Und als sie dann Europapokalsieger wurden, war das natürlich das Größte. Ich würde für mein Leben gern mal die gelbe Wand betreten und eine Dauerkarte haben. Dafür würde ich glatt wieder in den Ruhrpott ziehen.

Wie bist du zum Schreiben gekommen?

In meinen jungen Jahren habe ich als Gitarrist in Bands gespielt. Und dadurch bin ich von der Sozialarbeit zum Schreiben gekommen bin. Zuerst habe ich für eine Tageszeitung Kritiken über Konzerte geschrieben. Jemand vom Fach meinte, dass ich das ganz ordentlich mache, und so kam es, dass ich irgendwann für das erste Magazin schreiben durfte.

Nach München kam ich 1989 durch einen Freund, der Programmchef bei Radio Charivari war. Die brauchten damals jemanden, der ihr komplettes Archiv auf spielbares Material durchforstete. Die Musiktitel mussten damals noch alle vermessen werden. Es gab pro Song einen DIN A4 Bogen, auf dem die Parameter standen, die man vermessen musste. Ramp 1 – deutsch: Rampe – das war zum Beispiel die Dauer des Intros, damit der Moderator wusste, wann der Sänger mit dem Singen begann und wie lang er noch in den Song „reinquatschen“ konnte. Die Emotionalität des Songs wurde in Kategorien wie „lebhaft“, „sanft“ oder „aggressiv“ eingeteilt, damit man wusste, was man zu welcher Sendezeit spielen konnte. Das war mein erster Job im Musikbusiness. Ich hab aber sehr schnell gemerkt, dass das nicht mein Ding ist. Sie haben zum Beispiel die Songs geschnitten und allen Ernstes bei Stücken von Eric Clapton die Gitarrensoli rausgenommen! Geht´s noch? Das ist, als würde man bei Pamela Anderson die Titten weglassen. Jedenfalls war’s das für mich beim Radio. Zumindest erstmal – heute habe ich bei ByteFM meine eigene Sendung, und da wird nix geschnitten

Mein Volontariat als Redakteur habe ich in München bei Soundcheck, einem Musikermagazin, gemacht. Nachdem ich das beendet hatte, habe ich dort noch kurze Zeit als Redakteur gearbeitet. Über die Freundin eines Fußballkumpels habe ich dann 1992 gehört, dass die Bravo einen Redakteur sucht. Ich hab den Job bekommen, weil der damalige Chefredakteur jemanden wollte, der das Team mit Musikkompetenz verstärkt. Am 01.10.1992 war mein erster Arbeitstag, und kurz darauf bekam die Bravo einen neuen Chefredakteur, der eine andere Schiene fuhr als der bisherige. Nicht die Musik stand jetzt im Vordergrund, stattdessen sollten wir Redakteure die Kids an die Hand nehmen und ihnen die Welt der Stars zeigen. Dumm gelaufen! Ich dachte nur „Oh, oh!“ Aber es ging gut.
Mein erstes Bravo-Interview war mit Bobbi Brown. Sie hatten mich vorher gewarnt, dass ich bloß nichts zu Whitney Houston fragen soll – am Ende aber hat er ganz bereitwillig erzählt, wie sie ihm im Wohnzimmer Gesangsunterricht gab. Und dann haben sie mich auf die Prinzen angesetzt, die damals ihre großen Hits hatten – nette Jungs, wir haben bis heute freundschaftlichen Kontakt.

Gab es ein unvergessliches Erlebnis während dieser Zeit?

Als ich beim Musikexpress war, habe ich mal einen Tag mit Rudolf Scharping verbracht, weil die SPD im Bundestagswahlkampf was für das jugendliche Image tun wollte. Wir bekamen eine Anfrage, ob ein Redakteur während der PopKomm einen Tag lang mit Rudolf Scharping durch Köln ziehen wollte. Ich bekam die Aufgabe zugeteilt, wahrscheinlich weil ich damals schon graue Haare hatte, und bin dann mit ihm in einer gepanzerten Limousine kreuz und quer durch Köln gefahren. Die Toten Hosen und Nick Cave waren zu der Zeit Headliner auf dem Bizarre-Festival. Scharping erzählte von seiner Tochter, die großer Hosen-Fan war, und dass sie auf dem Bizarre-Festival sei und einen Backstage-Pass habe. Er wollte nach ihr Ausschau halten, wenn wir dort ankommen. Hinter der Bühne standen diverse Baracken für Bands, Catering usw. Nachdem die Limousine dorthin durchgewunken wurde, gingen wir mit der gesamten Entourage schnurstracks zu der Baracke, in der die Hosen untergebracht waren. Als ich reinkam, sah ich als erstes Campino mit einer Blondine auf dem Schoß – er erkannte mich und dachte „Ach … nur der Trottel von der Bravo – kein Problem.“ Dann kam aber gleich hinter mir Rudolf Scharping rein, und Campino fiel der Kitt aus der Brille. Ich glaub, er wird sich da heute noch dran erinnern. Das war eine vollkommen surreale Situation, aber lustig.

Wie bist du auf die Idee gekommen, Bücher zu schreiben?

Ich bin dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind – das ist ja manchmal so. Meine Lieblingsband waren schon immer die Rolling Stones. 2007 hat mich ein Verlag aus Berlin gefragt, ob ich für die Buchreihe „Songs and Story kompakt“ einen Band über die Stones schreiben möchte. Mir war das Format dieser Bücher jedoch zu klein, um das Wirken der Stones in angemessener Form darzustellen. Wir haben uns dann auf ein „richtiges“ Buch als komplette Werkanalyse geeinigt. Das zu schreiben hat einen Riesenspaß gemacht, und es ist sogar richtig gut gelaufen. Quasi nebenher habe ich mir auf diese Weise einen Namen als Stones-Experte gemacht. Damit ging es los, und ich habe seitdem noch weitere Bücher geschrieben. Zum Beispiel eine Art Pop-Archäologie: „Von Edison bis Elvis – wie die Popmusik erfunden wurde“. Darin geht es darum, wie sich Musik und Technik entwickelt und gegenseitig beeinflusst haben, wie nebenher das Business entstand und wie aus all dem eine Massenkultur werden konnte. Das Buch erzählt die Geschichte von der Erfindung des ersten Phonographen durch Edison 1877 bis zum Auftauchen von Elvis im Sommer 1954. Die erste Session übrigens, die Elvis je für Sun Records machte, war genau einen Tag nachdem auf der anderen Seite des Atlantiks das Wunder von Bern geschehen war. Das Edison-Buch hat mir einen guten Namen eingebracht – sozusagen von der Bravo ins Feuilleton. Mein bislang erfolgreichstes Buch aber ist „1967 – als Pop unsere Welt für immer veränderte“, das im letzten Herbst erschienen ist.

Wenn das Leben ein Comic wäre, welche Figur wärst du dann und warum?

Ich wäre Linus – er ist mein absoluter Held! Linus ist der größte Philosoph bei den Peanuts, und er ist derjenige mit der größten Tiefe! Abgesehen davon ist er einfach ein süßer Kerl. Ich mag, wie er gezeichnet ist mit seiner Schmusedecke.

Die Peanuts habe ich als Junge schon in den späten Sechzigern kennengelernt, allerdings in der englischen Taschenbuchversion. Am Anfang hab ich zwar nicht alles begriffen, aber so habe ich auch ein bisschen Englisch gelernt. Als ich die Comics dann später auf Deutsch gelesen habe, war ich meistens ziemlich enttäuscht von den Übersetzungen – die waren vergleichsweise platt und die Figuren sehr eindimensional dargestellt. Die Charaktere kommen im Deutschen völlig falsch rüber – z. B. Snoopy ist im Deutschen immer auf dieses Niedlicher-Hund-Ding reduziert, dabei ist das vor allem auch ein großer Denker.

Das Interview führten wir im Mai 2017.

Das Interview bietet einen Einblick in die Gedanken, Meinungen und Perspektiven der interviewten Person zu diesem bestimmten Zeitpunkt, reflektiert aber nicht zwangsläufig ihre gesamte Persönlichkeit oder ihre langfristigen Ansichten. Das Leben verändert sich stetig. Unsere Überzeugungen, Werte und Erfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter. Was heute wahr oder relevant ist, kann in der Zukunft anders aussehen. Dieses Interview ist als Momentaufnahme zu verstehen.